Leitsatz (amtlich)
1. Aus dem Recht auf faire Verfahrensgestaltung im Bußgeldverfahren ergibt sich grundsätzlich ein Anspruch des Betroffenen gegenüber der Bußgeldbehörde auf Zugang zu den bei ihr vorhandenen, nicht zur Akte gelangten Informationen, die aus Sicht des Betroffenen für die Beurteilung der Erfolgsaussichten seiner Verteidigung bedeutsam sein können.
2. Dies gilt regelmäßig auch im Hinblick auf die vom betreffenden Messgerät am Tattag generierte sog. „Messreihe“.
Verfahrensgang
AG Gera (Entscheidung vom 12.12.2019; Aktenzeichen 14 OWi 150 Js 25142/19 (2)) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Gera vom 12.12.2019 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Prüfung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht Gera zurückverwiesen.
Gründe
I.
Mit Urteil des Amtsgerichts Gera vom 12.12.2019 wurde - nach rechtzeitigem Einspruch gegen den gleichlautenden Bußgeldbescheid der Thüringer Polizei/Zentrale Bußgeldstelle vom 03.06.2019 - der hinsichtlich seiner Fahrereigenschaft geständige Betroffene wegen einer am 28.02.2019 gegen 13.23 Uhr auf der BAB .., Fahrtrichtung D....., km 139, als Fahrer des Pkws mit dem amtlichen Kennzeichen .............. begangenen fahrlässigen Überschreitung der außerorts durch ordnungsgemäße Beschilderung festgelegten Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h um (abzüglich eines Toleranzwertes von 6 km/h) 63 km/h - gemessen mittels gültig geeichten Geschwindigkeitsmessgerätes Poliscan M1 HP - zu einer (Regel-)Geldbuße von 440,- € verurteilt und gegen ihn ein - mit der Wirksamkeitsregel des § 25 Abs. 2a StVG versehenes - (Regel-)Fahrverbot von 2 Monaten Dauer verhängt.
Gegen das Urteil wendet sich die von dem Betroffenen form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde, die auf die näher ausgeführte Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützt worden ist.
Die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft hat mit - dem Betroffenen über seinen Verteidiger zugestellter - Stellungnahme vom 15.05.2020 beantragt, die Rechtsbeschwerde als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.
Der Betroffene hat hierauf über seinen Verteidiger mit Schriftsatz vom 08.06.2020 erwidert.
Mit Beschluss der gem. § 80a Abs. 1 OWiG zuständigen Einzelrichterin vom 22.02.2021 ist die Entscheidung über die Rechtsbeschwerde gem. § 80 Abs. 1, Abs. 3 Satz 1 OWiG zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung auf den Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen worden.
II.
1.
Die gem. § 79 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1, 2 OWiG statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde hat (vorläufig) Erfolg, soweit sie mit der auf die Verletzung des fair-trial-Grundsatzes gestützten Verfahrensrüge geltend macht, dem Antrag des Betroffenen auf Überlassung der mit seiner Messung in Zusammenhang stehenden "Messserie" sei nicht entsprochen und damit seine Verteidigung unzulässig beschränkt worden, § 338 Nr. 8 StPO.
a.
Das Recht auf ein faires Verfahren zählt zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens. In ihm darf der Betroffene nicht bloßes Verfahrensobjekt sein; ihm muss vielmehr die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Das Gebot fairer Verfahrensführung soll dabei gewährleisten, dass der Betroffene seine prozessualen Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde selbständig wahrnehmen und Übergriffe staatlicher Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren kann. Als aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip resultierendes Prozessgrundrecht steht es dem Betroffenen im Ordnungswidrigkeitenverfahren ebenso zu wie dem Beschuldigten im Strafverfahren (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.03.1992, Az. 2 BvR 1/91, bei juris) und wendet sich nicht nur an die Gerichte, sondern auch an die Exekutive, soweit diese sich rechtlich gehalten sieht, bestimmte Beweismittel nicht freizugeben (BVerfG, Beschl. v. 26.05.1981, Az. 2 BvR 215/81; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.07. 2019, Az. 1 Rb 10 Ss 291/19, bei juris).
b.
Kennzeichnend für den Anspruch auf ein faires Verfahren ist die Forderung nach verfahrensrechtlicher Waffengleichheit von Ankläger und Beschuldigtem (BVerfG, Beschl. v. 08.10.1974, Az. 2 BvR 747/73; Beschl. v. 15.01.2009, Az. 2 BvR 2044/07, bei juris). Das bedeutet allerdings nicht, dass unter diesem Gesichtspunkt in der Rollenverteilung begründete verfahrensspezifische Unterschiede in den Handlungsmöglichkeiten von Verfolgungsbehörde und Verteidigung in jeder Hinsicht ausgeglichen werden müssten (vgl. BVerfG, Beschl. v. 15.01.2009, a. a. O.) oder verfahrensrechtliche Positionen Betroffener nicht auch eine Zurücksetzung zugunsten einer wirksamen Rechtspflege erfahren können, deren Erfordernisse in der vorzunehmenden Gesamtschau ebenfalls zu berücksichtigen sind (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020, Az. 2 BvR 1616/18 bei juris).
Für das Bußgeldverfahren, das vorrangig für die Massenverfahren des t...