In Entscheidungen vom 3.6.2008 (zfs 2008, 562) und vom 8.7.2008 (zfs 2008, 565) hatte der BGH zu der Frage des Nachweises eines durch einen Unfall herbeigeführten HWS-Syndroms Stellung genommen. In der Entscheidung vom 3.6.2008 betonte der BGH, dass eine fehlerhafte Beweiswürdigung dann vorliege, wenn lediglich ein biomechanisches Gutachten, aber kein medizinisches Gutachten eingeholt werde, um den Ursachenzusammenhang zu klären. Stelle der biomechanisch tätige Gutachter auf medizinischem Gebiet liegende Überlegungen zur Klärung der Beweisfrage an, liege eine Verletzung der Aufklärungspflicht vor, weil ihm das zur Beurteilung dieser medizinischen Frage erforderliche Fachwissen fehle. Damit betont der BGH den Vorrang medizinischer Gutachtenerstattung im typischen HWS-Rechtsstreit.
In der Entscheidung vom 8.7.2008 hat der BGH die Anforderungen an den Nachweis eines unfallbedingten HWS-Syndroms deutlich gesenkt. Eine tatrichterliche Würdigung, die sowohl darauf abstelle, dass ein enger Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem Auftreten von Beschwerden im Halswirbelsäulenbereich vorliege, und die von dem untersuchenden Arzt getroffene Feststellung einer eingeschränkten Rotation der Halswirbelsäule könne die Feststellung tragen, dass das Unfallereignis eine mit dem Beweismaß des § 286 ZPO nachzuweisende Verletzung der Halswirbelsäule zur Folge hatte.
Die zu einer Frontalkollision ergangene Entscheidung, bei der die Belastbarkeit höher ist als bei einer Heckkollision, kann auf die Beurteilung der Ursächlichkeit von Heckkollisionen für ein Halswirbelsäulensyndrom übertragen werden. Burmann/Heß weisen allerdings mit Recht darauf hin, dass der Entscheidung des BGH ein Sachverhalt zu Grunde lag, in dem die Einholung eines medizinischen Gutachtens zur behaupteten fehlenden Kausalität nicht beantragt worden war (vgl. Burmann/Heß, NZV 2008, 481, 484). Das geschieht in der Regel, sodass sich aus der Entscheidung vom 3.6.2008 keine Senkung der Anforderungen an den Nachweis des unfallbedingten HWS-Syndroms ableiten lässt.
Die vorliegende Entscheidung macht auch das Zusammenwirken von §§ 286, 287 ZPO bei der Würdigung des ursächlichen Zusammenhangs des Auffahrunfalls für das behauptete HWS-Syndrom deutlich. Hatte der Auffahrunfall zu einer Primärverletzung geführt, die mit dem Beweismaß des § 286 ZPO erwiesen ist, musste der Geschädigte den behaupteten Eintritt eines Bandscheibenvorfalls nur noch mit dem Beweismaß des § 287 ZPO führen. Das knüpft an die in der Praxis noch gebräuchliche Einteilung von Erdmann in seiner Monografie "Schleuderverletzungen", 1973, S. 21 an.
Schweregrad 1: |
leichte Distorsion (Nacken- und Kopfschmerzen bis zu drei Monaten) |
Schweregrad 2: |
Risse der Gelenkkapseln, Muskelzerrungen, Hämatome, Schluckbeschwerden, Nackensteife, Kopfschmerzen (Beschwerden bis zu einem Jahr) |
Schweregrad 3: |
Bandscheibenzerreißungen, Rupturen des Bandapparates des Rückens, Brüche und Verrenkungen der Halswirbelsäule, Kopf- und Armschmerzen (Rückenmarksymptome bis zu zwei Jahren und länger). |
Lag eine mit bildgebenden Verfahren nicht nachzuweisende, aber auf Grund der ärztlichen Erstuntersuchung plausible Verletzung mit einem Schweregrad 1 vor, senkte sich das Beweismaß für eine behauptete unfallbedingte Verletzung der Halswirbelsäule auf die Anforderungen nach § 287 ZPO. Den Ausführungen des Sachverständigen lässt sich allerdings entnehmen, dass der Nachweis für diese Unfallfolge kaum erbracht werden kann.
Für den Verkehrsjuristen ist es bedeutsam, dass auch oft in juristischen Entscheidungen gemutmaßte, das Auftreten von HWS-Syndrom erleichternden Besonderheiten des Unfallgeschehens, von Orthopäden nicht geteilt werden. Vor allem das angeblich erleichterte Auftreten von unfallbedingten HWS-Syndromen bei verschleißbedingten Veränderungen der Halswirbelsäule, der Einfluss der verdrehten, von der normalen Körper- und Kopfhaltung abweichenden Sitzposition und der Überraschungseffekt des schädigenden Ereignisses werden auf Grund nicht durch wissenschaftliche Feststellungen gesicherter Mutmaßungen als verletzungsfördernde Umstände angesehen (vgl. hierzu Mazotti/Castro, NZV 2008, 113, 115 f.).
RiOLG Heinz Diehl, Frankfurt/M.