GG Art. 20 Abs. 3; GVG § 121; StPO § 338 Nr. 8
Leitsatz
1. Die Frage, ob im konkreten Einzelfall ein Anspruch auf Herausgabe der Daten der gesamten Messreihe besteht oder nicht, ist eine Tatsachenfrage, keine Rechtsfrage.
2. Es ist Aufgabe der mit den Verfahren befassten Bußgeldgerichte, im Einzelfall zu beurteilen, ob das Einsichtsgesuch den Anforderungen der Rechtsprechung des BVerfG entspricht.
BGH, Beschl. v. 30.3.2022 – 4 StR 181/21
Sachverhalt
Der BGH hat die Sache an das Pfälzische OLG Zweibrücken zurückgegeben.
2 Aus den Gründen:
[1] I. Gegen die Betroffene erging am 6.7.2020 durch die Zentrale Bußgeldstelle des Polizeipräsidiums Rheinpfalz ein Bußgeldbescheid wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 35 km/h, gegen den die Betroffene form- und fristgerecht Einspruch einlegte. Zur Überprüfung der Verlässlichkeit der dem Ordnungswidrigkeitenvorwurf zugrundeliegenden Geschwindigkeitsmessung beantragte die Betroffene durch ihren Verteidiger sowohl gegenüber der Verwaltungsbehörde als auch dem Amtsgericht die Einsicht in verschiedene Unterlagen sowie die Übermittlung näher bezeichneter Daten, insbesondere der unverschlüsselten Rohmessdaten der gesamten Messserie. Diese Einsichts- und Übermittlungsersuchen blieben jeweils ohne Erfolg.
[2] Das AG Kaiserlautern hat die Betroffene mit Urt. v. 25.1.2021 wegen fahrlässiger Überschreitung der erlaubten Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 35 km/h zu der Geldbuße von 120 EUR verurteilt. Nach den amtsgerichtlichen Feststellungen überschritt die Betroffene bei der Fahrt mit einem Pkw die an der Messstelle durch Verkehrszeichen auf 70 km/h beschränkte Höchstgeschwindigkeit unter Berücksichtigung der Messtoleranz um 35 km/h, wobei die gefahrene Geschwindigkeit mit einem Messgerät ES 3.0 der Firma E. ermittelt wurde.
[3] Gegen dieses Urteil hat die Betroffene form- und fristgerecht "Rechtsbeschwerde" eingelegt und das Rechtsmittel mit einer Verfahrensbeanstandung und der Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründet. Mit der Verfahrensrüge beanstandet sie unter dem Gesichtspunkt einer Verletzung des fairen Verfahrens die unterbliebene Übermittlung der Rohmessdaten aus der gesamten mit dem Messgerät vorgenommenen Messreihe.
[4] Das Pfälzische OLG Zweibrücken hat das Rechtsmittel der Betroffenen als Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gemäß § 80 Abs. 1 OWiG behandelt und die Rechtsbeschwerde zugelassen.
[5] II. In der Sache möchte das Pfälzische OLG Zweibrücken die Rechtsbeschwerde nach § 79 Abs. 5 OWiG verwerfen. Die ordnungsgemäß erhobene Verfahrensbeschwerde hält es für unbegründet, weil aufgrund vorliegender Erkenntnisse der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt sicher auszuschließen sei, dass sich aus den Rohmessdaten der gesamten Messreihe Anhaltspunkte für die Beurteilung der Verlässlichkeit der die Betroffene belastenden Einzelmessung ergeben könnten. An der beabsichtigten Verwerfung der Rechtsbeschwerde sieht sich das Pfälzische OLG Zweibrücken durch die Entscheidung des Thüringer OLG vom 17.3.2021 (VRS 140, 33) gehindert. Das Pfälzische OLG Zweibrücken versteht diese Entscheidung dahin, dass es nach Ansicht des Thüringer OLG den Bußgeldgerichten aus Rechtsgründen verwehrt sei, die vom Betroffenen im Rahmen eines Auskunftsersuchens geltend gemachte Relevanz der begehrten Informationen für die Verteidigung des Betroffenen einer gerichtlichen Überprüfung zu unterziehen. Es hat daher mit Beschl. v. 4.4.2021 (DAR 2021, 399) die Sache gemäß § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG in Verbindung mit § 121 Abs. 2 GVG dem BGH zur Beantwortung folgender Rechtsfrage vorgelegt:
Liegt in der Verweigerung der Einsichtnahme in dritte Verkehrsteilnehmer betreffende Daten ("gesamte Messreihe") auch dann ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens, wenn eine Relevanz der betreffenden Daten für die Beurteilung der Zuverlässigkeit des verfahrensgegenständlichen Messvorgangs und damit für die Verteidigung des Betroffenen nicht erkennbar ist?
[6] Der Generalbundesanwalt hält die Vorlage für unzulässig und beantragt, die Sache an das Pfälzische OLG Zweibrücken zurückzugeben.
[7] III. Die Sache ist an das Pfälzische OLG Zweibrücken zurückzugeben, da die Vorlegungsvoraussetzungen des § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG in Verbindung mit § 121 Abs. 2 GVG nicht vorliegen. Die Annahme einer in rechtlicher Hinsicht bestehenden Divergenz durch das vorlegende Oberlandesgericht beruht auf einem nicht mehr vertretbaren Verständnis der Entscheidung des Thüringer Oberlandesgerichts vom 17.3.2021 und ist daher für den BGH im Vorlegungsverfahren nicht bindend (vgl. BGH, Beschl. v. 14.12.1999 – 5 AR (VS) 2/99, NStZ 2000, 222; vgl. Quentin in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StPO, 4. Aufl., § 121 GVG Rn 21; Feilcke in KK-StPO, 8. Aufl., § 121 GVG Rn 43 f. jeweils m.w.N.).
[8] 1. Das aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgebot des Art. 20 Abs. 3 GG resultierende Recht auf ein faires Verfahren gewährleistet nach der Rechtsprechung des BVerfG (vgl. BVerfG, NJW...