[30] Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Nr. 6.4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126 im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und von Art. 15 der Charta dahin auszulegen ist, dass es danach in einem konkreten Fall einer Person, die dem darin vorgesehenen Erfordernis, dass bei Fahrzeugführern der Gruppe 2, d.h. den Führern von Fahrzeugen der Klassen C, CE, C1, C1E, D, DE, D1 und D1E, das horizontale Gesichtsfeld mit beiden Augen mindestens 160° betragen sollte, aus medizinischer Sicht nicht entspricht, verwehrt ist, möglicherweise als diesem Erfordernis entsprechend angesehen zu werden, wenn sie nach Ansicht mehrerer medizinischer Sachverständiger tatsächlich tauglich ist, ein Kraftfahrzeug zu führen, das in eine dieser Klassen fällt.
[31] In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2006/126, wie sich aus ihrem achten Erwägungsgrund ergibt, eine Harmonisierung der Mindestanforderungen an die Ausstellung des in ihrem Art. 1 vorgesehenen Führerscheins vornimmt. Diese Voraussetzungen werden insbesondere in den Art. 4 und 7 der Richtlinie festgelegt und betreffen u.a. das erforderliche Mindestalter, die Fähigkeit zum Führen eines Kraftfahrzeugs, die Prüfungen, die der Bewerber bestanden haben muss, und seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet des ausstellenden Mitgliedstaats. Außerdem werden nach Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie die von den Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine gegenseitig anerkannt.
[32] Nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/126 darf ein Führerschein nur an Bewerber ausgestellt werden, die eine Prüfung der Fähigkeiten und Verhaltensweisen sowie eine theoretische Prüfung bestanden haben und die Mindestanforderungen an die körperliche und geistige Tauglichkeit nach Maßgabe der Bestimmungen der Anhänge II und III der Richtlinie erfüllen. Zudem verlangt Art. 7 Abs. 3 Buchst. a dieser Richtlinie, dass die Erneuerung eines Führerscheins bei Inhabern von Führerscheinen für Fahrzeuge der Klassen C, CE, C1, C1E, D, DE, D1 und D1E von der Erfüllung dieser Mindestanforderungen an die körperliche und geistige Tauglichkeit abhängig zu machen ist. Diese Bestimmungen sind somit zwingend formuliert.
[33] Es ist festzustellen, dass Nr. 6.4 Unterabs. 2 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126, in dem es in der französischen Fassung heißt, dass das horizontale Gesichtsfeld mit beiden Augen nicht weniger als 160° betragen darf, ebenfalls zwingend formuliert ist. Zwar enthält diese Bestimmung, wie die Europäische Kommission ausgeführt hat, in einigen Sprachfassungen dieser Richtlinie, wie in der deutschen (sollte), der englischen (should) und der finnischen (olisi oltava) Fassung der Richtlinie, ein weniger verbindliches Verb als in der französischen Fassung, andere Sprachfassungen wie die spanische (deberá), die italienische (deve), die niederländische (dient) und die portugiesische (deve) Fassung verwenden jedoch ein ebenso verbindliches Verb.
[34] Nach ständiger Rechtsprechung kann die in einigen Sprachfassungen einer unionsrechtlichen Vorschrift verwendete Formulierung nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung dieser Vorschrift herangezogen werden oder insoweit Vorrang vor den anderen sprachlichen Fassungen beanspruchen. Die Notwendigkeit einer einheitlichen Anwendung und damit Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts schließt es nämlich aus, sie in einer ihrer Fassungen isoliert zu betrachten, sondern gebietet vielmehr, sie anhand der allgemeinen Systematik und des Zwecks der Regelung, zu der sie gehört, auszulegen, namentlich im Licht ihrer Fassungen in allen Sprachen (vgl. in diesem Sinne Urteile v 12.11.1969, Stauder, 29/69, EU:C:1969:57, Rn 2 und 3, v. 30.6.2022, Allianz Elementar Versicherung, C-652/20, EU:C:2022:514, Rn 36, und v. 18.1.2024, Regionalna direktsia "Avtomobilna administratsia" Pleven, C-227/22, EU:C:2024:57, Rn 43).
[35] Zur allgemeinen Systematik der Richtlinie 2006/126 ist festzustellen, dass Nr. 6.4 ihres Anhangs III keine Ausnahme von dem für Fahrzeugführer der in Nr. 1.2 dieses Anhangs definierten Gruppe 2 vorgesehenen Erfordernis vorsieht, dass das horizontale Gesichtsfeld mit beiden Augen mindestens 160° betragen muss, während Nr. 6 Unterabs. 2 dieses Anhangs für Fahrzeugführer der Gruppe 1, die die Anforderungen an Sehschärfe und Gesichtsfeld nicht erfüllen, eine Ausnahme vorsieht.
[36] Mangels einer vergleichbaren Ausnahme für Fahrzeugführer der Gruppe 2 müssen diese stets den Anforderungen an Sehschärfe und Gesichtsfeld genügen, wenn sie eine neue Fahrerlaubnis oder die Erneuerung einer bestehenden Fahrerlaubnis beantragen.
[37] Der Gerichtshof hat dazu festgestellt, dass der Unionsgesetzgeber darauf bedacht war, die Fahrzeugführer in Abhängigkeit von der Größe des Fahrzeugs, der Zahl der beförderten Personen und der Verantwortung, die sich damit aus dem Führen solcher Fahrzeuge ergibt, in zwei Kategorien einzuteilen. In der Tat rechtfertigen die Merkmale der betroffene...