Richtlinie 2006/126/EG Anhang III Nr. 6.4 (Mindestanforderungen an die körperliche und geistige Tauglichkeit zum Führen eines Kraftfahrzeugs)
Leitsatz
Nr. 6.4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.12.2006 über den Führerschein in der durch die Richtlinie 2009/113/EG der Kommission vom 25.8.2009 geänderten Fassung ist im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und von Art. 15 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass es danach in einem konkreten Fall einer Person, die dem darin vorgesehenen Erfordernis, dass bei Fahrzeugführern der Gruppe 2, d.h. den Führern von Fahrzeugen der Klassen C, CE, C1, C1E, D, DE, D1 und D1E, das horizontale Gesichtsfeld mit beiden Augen mindestens 160° betragen sollte, aus medizinischer Sicht nicht entspricht, verwehrt ist, möglicherweise als diesem Erfordernis entsprechend angesehen zu werden, wenn sie nach Ansicht mehrerer medizinischer Sachverständiger tatsächlich tauglich ist, ein Kraftfahrzeug zu führen, das in eine dieser Klassen fällt.
EuGH, Urt. v. 21.3.2024 – Rechtssache C-703/22
1 Sachverhalt
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Nr. 6.4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.12.2006 über den Führerschein (ABl 2006, L 403, S. 18) in der durch die Richtlinie 2009/113/EG der Kommission vom 25.8.2009 (ABl 2009, L 223, S. 31) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2006/126).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen WU und der Directie van het Centraal Bureau Rijvaardigheidsbewijzen (CBR) (Direktion des Zentralen Führerscheinamts, Niederlande) wegen deren Entscheidungen, mit denen ein im Rahmen der Erneuerung des Führerscheins von WU gestellter Antrag auf Feststellung der körperlichen und geistigen Tauglichkeit von WU für das Führen eines Kfz, insbesondere von Fahrzeugen der Klassen C und CE, abgelehnt und die Erteilung einer anderen, geografisch auf die Niederlande beschränkten Fahrerlaubnis abgelehnt wurde.
… Unter diesen Umständen hat der Raad van State (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Nr. 6.4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126, insbesondere die Anforderung eines horizontalen Gesichtsfelds mit beiden Augen von mindestens 160º im Licht des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dahin auszulegen, dass auch eine Person, die dieser Anforderung aus medizinischer Sicht nicht entspricht, aber nach Ansicht verschiedener medizinischer Sachverständiger dennoch tatsächlich tauglich ist, einen Lastkraftwagen zu führen, die Anforderung erfüllen kann?
2. Falls diese Frage verneint wird, besteht dann im Rahmen der Richtlinie 2006/126 Raum für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall, obwohl die Anforderung in Nr. 6.4 des Anhangs III dieser Richtlinie keine Möglichkeit vorsieht, in solchen Fällen Ausnahmen zu machen?
3. Wenn dies der Fall ist, welche Umstände können bei der Beurteilung der Frage, ob von der Anforderung des Gesichtsfelds im Sinne von Nr. 6.4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126 im Einzelfall abgewichen werden kann, eine Rolle spielen?
"…"
2 Zu den Vorlagefragen:
[30] Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Nr. 6.4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126 im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und von Art. 15 der Charta dahin auszulegen ist, dass es danach in einem konkreten Fall einer Person, die dem darin vorgesehenen Erfordernis, dass bei Fahrzeugführern der Gruppe 2, d.h. den Führern von Fahrzeugen der Klassen C, CE, C1, C1E, D, DE, D1 und D1E, das horizontale Gesichtsfeld mit beiden Augen mindestens 160° betragen sollte, aus medizinischer Sicht nicht entspricht, verwehrt ist, möglicherweise als diesem Erfordernis entsprechend angesehen zu werden, wenn sie nach Ansicht mehrerer medizinischer Sachverständiger tatsächlich tauglich ist, ein Kraftfahrzeug zu führen, das in eine dieser Klassen fällt.
[31] In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2006/126, wie sich aus ihrem achten Erwägungsgrund ergibt, eine Harmonisierung der Mindestanforderungen an die Ausstellung des in ihrem Art. 1 vorgesehenen Führerscheins vornimmt. Diese Voraussetzungen werden insbesondere in den Art. 4 und 7 der Richtlinie festgelegt und betreffen u.a. das erforderliche Mindestalter, die Fähigkeit zum Führen eines Kraftfahrzeugs, die Prüfungen, die der Bewerber bestanden haben muss, und seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet des ausstellenden Mitgliedstaats. Außerdem werden nach Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie die von den Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine gegenseitig anerkannt.
[32] Nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/126 darf ein Führerschein nur an Bewerber ausgestellt werden, die eine Prüfung der Fähigkeiten und Verhaltensweisen sowie eine theoretische Prüfung bestanden haben und die Mindestanforderungen an die körperliche und geistige Tauglichkeit nach Maßgabe der Be...