OWiG § 73 § 74
Leitsatz
1. Auch dann, wenn der Entbindungsantrag nach § 73 Abs. 2 OWiG erst am Sitzungstag und nur kurz vor dem anberaumten Termin bei Gericht eingeht, darf der Einspruch des Betr. gegen den Bußgeldbescheid jedenfalls dann nicht ohne eine vorherige Entscheidung über den Antrag verworfen werden, wenn der Antrag – wie hier – mit "offenem Visier", also nicht bewusst oder in rechtsmissbräuchlicher Absicht "versteckt" oder "verklausuliert" eingereicht und bei einer Übermittlung per Telefax an den Faxanschluss der für die betreffende Abteilung des AG und in der gerichtlichen Korrespondenz angegebenen zuständigen Geschäftsstelle und nicht etwa nur an eine zentrale gerichtliche Faxeingangsstelle übersandt worden ist.
2. Darauf, dass der vom Verteidiger des Betr. verfasste Entbindungsantrag dem Vorsitzenden tatsächlich erst nach Urteilserlass vorgelegt, mithin der Einspruch des Betr. in Unkenntnis des Antrags auf Entbindung ohne Sachprüfung verworfen worden ist, kommt es nicht an.
BayObLG, Beschl. v. 15.4.2019 – 202 ObOWi 400/19
Sachverhalt
Gegen den Betr. wurde wegen Überschreitung der außerhalb geschlossener Ortschaften zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 42 km/h eine Geldbuße von 320 EUR mit einmonatigem Fahrverbot festgesetzt. Den hiergegen gerichteten Einspruch des Betr. hat das AG in Abwesenheit des Betr. und seines Verteidigers nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen, weil der Betr., ohne von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden worden zu sein, in der Hauptverhandlung unentschuldigt nicht erschienen sei. Das BayObLG hat das Urteil des AG aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.
2 Aus den Gründen:
"… II. Die nach § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und 2 OWiG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde zwingt den Senat aufgrund der gem. § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO ordnungsgemäß ausgeführten Verfahrensrüge einer Verletzung von § 74 Abs. 2 OWiG zur Urteilsaufhebung und zur Zurückverweisung der Sache an das AG; auf die (unausgeführte) Sachrüge kommt es nicht mehr an. Die Einspruchsverwerfung hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand, weil das AG über den vor Verhandlungsbeginn gestellten ausdrücklichen Antrag des Betr., ihn von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen zu entbinden, nicht entschieden und deshalb das Fernbleiben des Betr. in der Hauptverhandlung zu Unrecht als nicht genügend entschuldigt angesehen hat."
1. Die zur Beurteilung des gerügten Verfahrensverstoßes notwendigen Verfahrenstatsachen (vgl. zuletzt KG, Beschl. v. 21.6.2018 – 122 Ss 78/18 = StraFo 2018, 482) werden in der gebotenen Vollständigkeit vorgetragen. Insb. führt bei der gegebenen eindeutigen Antragstellung auf Entbindung vom 12.12.2018 allein die unterlassene Mitteilung des vorangegangenen Verlegungsantrags vom 10.12.2018 und seiner Begründung und der auf diesen hin erfolgten gerichtlichen Reaktion mit der Verteidigung per Telefax vom 11.12.2018 übermitteltem Schreiben des AG vom selben Tag nicht zu einer Unzulässigkeit der Verfahrensrüge, zumal das Gericht nach dem Inhalt seiner Mitteilung und dem für den Folgetag anberaumten Termin zur Hauptverhandlung mit einer weiteren – durchaus auch kurzfristigen – Reaktion der Verteidigung rechnen musste. Aus dem gleichen Grund kann auch nicht von einem der Verfolgung verfahrensfremder oder verfahrenswidriger Zwecke dienenden und deshalb zur Unzulässigkeit der verfahrensrechtlichen Beanstandung unter dem Gesichtspunkt des Missbrauchs prozessualer Rechte führenden Verteidigungsverhalten ausgegangen werden (vgl. in diesem Sinne etwa OLG Zweibrücken, Beschl. v. 17.11.2017 – 1 OWi 2 SsBs 40/17 = zfs 2018, 50). Der Betr. hat in dem Entbindungsantrag seine Fahrereigenschaft eindeutig und unmissverständlich “eingeräumt' und zugleich erklären lassen, dass er “weitere Angaben […] im Termin nicht machen' werde, was nur so verstanden werden kann, dass er in einem Termin weder zur Sache noch zu seinen wirtschaftlichen Verhältnissen Angaben machen werde. Die für einen wirksamen Entbindungsantrag erforderliche besondere Vertretungsvollmacht für den Verteidiger lag vor (…) und wurde überdies zusammen mit dem Entbindungsantrag nochmals eingereicht (…).
2. Die Verfahrensrüge ist auch begründet, weil das AG verpflichtet gewesen wäre, über den am Terminstag per Telefax spätestens um 14:00 Uhr, mithin rechtzeitig vor dem auf 14:20 Uhr angesetzten Beginn der Hauptverhandlung erfolgreich übermittelten Entbindungsantrag zu entscheiden. Dies ist rechtsfehlerhaft unterblieben und “sperrte' damit eine Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG.
a) Nach § 73 Abs. 2 OWiG hat das Gericht den Betr. auf seinen Antrag von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden, wenn er sich zur Sache geäußert oder erklärt hat, er werde sich in der Hauptverhandlung nicht weiter zur Sache äußern, und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhaltes nicht erforderlich ist. Die Entscheidung über den Entbindungsantrag steht hierbei nicht im Ermessen des Gerichtes...