Die Entscheidung verdient im Ergebnis und auch wegen ihrer klaren Ausführungen zum Anscheinsbeweis uneingeschränkte Zustimmung. Allein der Ls. 1 und die recht knapp begründete Zurechtweisung des LG, es habe nur § 10 S. 1 StVO und nicht daneben auch § 9 Abs. 5 StVO anwenden müssen (II.1.), irritiert. Sie dürfte auch nicht richtig sein.
Wer rückwärts von einem Bürgersteig auf die Fahrbahn fährt und dabei einen anderen verletzt oder gefährdet, verstößt nicht allein gegen § 10 S. 1 StVO, sondern auch gegen § 9 Abs. 5 StVO.
Denn es sind die tatbestandlichen Voraussetzungen beider Vorschriften erfüllt. Nicht nur der von einem anderen Straßenteil Einfahrende, sondern auch der Rückwärtsfahrende hat sich in einem solchen Fall nicht so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen war. Wortlaut und Entstehungsgeschichte lassen eine einschränkende Auslegung beider Vorschriften nicht zu. Systematische Überlegungen führen zu keinem eindeutigen Ergebnis. Und für eine teleologischen Beschränkung des § 9 Abs. 5 auf "Verkehrsvorgänge, die auf Straßen stattfinden," war in diesem Falle schon deswegen kein Raum, weil sich die Kollision tatsächlich auf der Straße und damit gerade im fließenden Verkehr ereignet hat.
Im Übrigen hat der BGH einer teleologischen Beschränkung der Vorschrift auf Unfälle mit Teilnehmern des fließenden Verkehrs erst jüngst eine Absage erteilt (BGH, Urt. v. 15.5.2018 – VI ZR 231/17, juris). In dem dieser BGH-Entscheidung zugrunde liegenden Fall war die Kl. rückwärts aus einem rechtwinklig zur Fahrbahn angeordneten Parkplatz auf die Straße eingefahren und auf der Gegenfahrbahn mit einem anderen vom dortigen Fahrbahnrand ausparkenden Fahrzeug kollidiert. Das LG hatte auch hier zu Lasten der Kl. sowohl auf einen Verstoß gegen § 10 S. 1 StVO als auch auf einen solchen gegen § 9 Abs. 5 StVO erkannt. Dies hat der BGH ausdrücklich gebilligt (BGH, Urt. v. 15.5.2018 – VI ZR 231/17, juris Rn 6 und Rn 12). Daher muss man feststellen, dass die Entscheidung des OLG Saarbrücken, was ihren Ls. 1 und die Ausführungen unter II.1. (Rn 14) betrifft, in Widerspruch zur Rechtsprechung des BGH steht.
Konkurrenzüberlegungen führen zu keinem anderen Ergebnis. Insb. wird § 9 Abs. 5 StVO in diesen Fällen nicht von § 10 S. 1 StVO konsumiert. Denn es macht auch vom Unrechtsgehalt einen Unterschied, ob der Einfahrende die gebotene Sorgfalt nicht achtet, oder ob der Rückwärtsfahrer als Einfahrender Gleiches tut. Die Differenzierung lässt sich nur unter Berücksichtigung beider Vorschriften ausdrücken. Und sie ist auch für die Abwägung im Rahmen des § 17 StVG grds. von Belang und kann, wenn dem Teilnehmer des fließenden Verkehrs ein unfallursächliches Mitverschulden an der Kollision zur Last fällt, auch zu einer veränderten Quote Anlass geben.
Schließlich scheint auch die Bezugnahme auf die zitierte Entscheidung des OLG Karlsruhe (v. 8.10.2015 – 9 U 64/14 – NJW-RR 2016, 325) verfehlt. Zwar findet sich in dem Beschl. d. 9. Zivilsenats der zitierte Satz (juris Rn 20); allerdings lag dieser Entscheidung ein ganz anderer Fall zugrunde. Das OLG Karlsruhe hatte nicht über die Sorgfaltspflichten eines Rückwärtsfahrers zu richten, sondern zu entscheiden, ob § 9 Abs. 4 StVO auch den Fall regelt, in dem zwei Verkehrsteilnehmer zur annähernd gleichen Zeit von gegenüberliegenden Parkplätzen auf dieselbe Straße einfahren. Mit § 9 Abs. 5 StVO und dessen Verhältnis zu § 10 StVO hatte sich dieses Gericht tatsächlich nicht befasst.
Im Ergebnis ist mithin der erste Ls. zu korrigieren: Auf das Rückwärtseinfahren vom Parkplatz auf eine Fahrbahn ist sowohl § 9 Abs. 5 StVO als auch § 10 S. 1 StVO anzuwenden.
VRiOLG a.D./RA Dr. Hans-Joseph Scholten
zfs 7/2021, S. 379 - 381