BGB § 254 Abs. 2 § 823 Abs. 1; StVG § 7 § 18; SGB X § 116 Abs. 1 § 199
Leitsatz
1. Von einem Geschädigten, der vom Arbeitsamt aufgrund seines Gesundheitszustandes für nicht mehr vermittlungsfähig gehalten wird, kann grundsätzlich keine weitere Eigeninitiative hinsichtlich der Aufnahme von Erwerbstätigkeit erwartet werden. Unter diesen Umständen besteht grundsätzlich auch keine weitere Darlegungslast dazu, was der Geschädigte unternommen hat, um einen angemessenen Arbeitsplatz zu erhalten (Bestätigung Senatsurteil vom 9.10.1990 – VI ZR 291/89, VersR 1991, 437, 438, juris Rn 15 f.). (Rn.15)
2. Verstößt der Geschädigte gegen die ihm obliegende Schadensminderungspflicht, weil er es unterlässt, einer ihm zumutbaren Erwerbstätigkeit nachzugehen, sind die erzielbaren (fiktiven) Einkünfte auf den Schaden anzurechnen. Eine quotenmäßige Anspruchskürzung kommt grundsätzlich nicht in Betracht (Festhalten an Senatsurteil vom 21.9.2021 – VI ZR 91/19, VersR 2021, 1583 Rn 14). (Rn.11)
BGH, Urt. v. 24.1.2023 – VI ZR 152/21
1 Sachverhalt
[1] Der klagende Rentenversicherungsträger verlangt von dem beklagten Kfz-Haftpflichtversicherer aus übergegangenem Recht die Erstattung von Leistungen, die er an seine Versicherte (Geschädigte) aufgrund eines Verkehrsunfalls erbracht hat.
[2] Die Geschädigte wurde bei einem Verkehrsunfall im August 2001 mit einem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Fahrzeug, für dessen Folgen die Beklagte dem Grunde nach zu 100 % haftet, schwer verletzt, insbesondere am linken Bein. Aufgrund einer Beinverkürzung links wurde ein Grad der Behinderung von 50 anerkannt. Die Geschädigte verlor unfallbedingt ihren Arbeitsplatz als Bürokauffrau.
[3] Nach dem Unfall holten beide Parteien Gutachten zum Gesundheitszustand der Geschädigten ein. Ein von der Klägerin eingeholtes orthopädisches Gutachten vom 5.11.2004 stellte fest, dass die Erwerbsfähigkeit der Geschädigten bis zum 31.12.2005 aufgehoben sei. Der Gutachter erwartete allerdings, sollten keine Komplikationen auftreten, dass die Geschädigte Anfang 2006 wieder eine sitzende Tätigkeit vollschichtig werde aufnehmen können. Nach einem von der Beklagten eingeholten Gutachten wurden im Mai 2006 die unfallbedingten Beeinträchtigungen der Geschädigten in dem vormals ausgeübten Beruf als Bürokauffrau mit 10 % und für den allgemeinen Arbeitsmarkt mit 20 % bewertet. Im Dezember 2006 nahm das Arbeitsamt die Geschädigte aus der Vermittlung heraus, da sie – nach Begutachtung durch einen Arzt – nicht mehr für vermittlungsfähig erachtet wurde. Anschließend wurde Anfang des Jahres 2007 eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme durchgeführt.
[4] Mit ihrer Klage verlangt die Klägerin von der Beklagten die Erstattung der von ihr an die Geschädigte erbrachten Leistungen im Zeitraum von Januar 2005 bis August 2018 (u.a. Rentenzahlungen wegen Erwerbsminderung, Beiträge zur Krankenversicherung, Aufwendungen für Rehabilitationsmaßnahmen) in Höhe von insgesamt 218.830,64 EUR abzüglich bereits geleisteter Zahlungen der Beklagten in Höhe von 32.981,39 EUR, insgesamt also 185.849,25 EUR. Demgegenüber rügt die Beklagte die Verletzung der der Geschädigten obliegenden Schadensminderungspflicht, weil diese sich nicht bemüht habe, einen neuen Arbeitsplatz zu finden.
[5] Das Landgericht hat der Klage vollständig stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen das landgerichtliche Urteil abgeändert und die Klage bis auf einen Betrag von 1.303,80 EUR nebst Zinsen abgewiesen. Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision erstrebt die Klägerin die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
2 Aus den Gründen:
[6] I. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner in r+s 2021, 361 ff. veröffentlichten Entscheidung unter anderem ausgeführt, der Anspruch der Klägerin gemäß §§ 7, 18 StVG, § 823 BGB i.V.m. § 3 PflVG a.F., §§ 116, 119 SGB X sei nur in geringem Umfang begründet. Für die Jahre 2004 bis 2005 sei ein Anspruch der Klägerin zwar zunächst entstanden, weil der Anspruch der Geschädigten für diesen Zeitraum aufgrund der unstreitigen Kompensation der Klägerin gemäß § 116 Abs. 1 SGB X auf diese übergegangen und nicht durch ein Mitverschulden der Geschädigten gemäß § 254 Abs. 2 BGB gemindert worden sei. Für die Geschädigte habe bis Ende 2005 keine Veranlassung bestanden, sich um eine Arbeit zu bemühen, weil ihr gutachterlich eine Erwerbsunfähigkeit attestiert worden sei. Die auf die Klägerin übergegangenen Ansprüche seien durch Zahlungen der Beklagten jedoch bereits erfüllt worden.
[7] Ersatzansprüche der Klägerin für die Jahre 2006 bis 2018 bestünden nicht. Die Geschädigte und die Klägerin hätten in diesen Jahren gegen ihre Schadensminderungspflichten verstoßen. Es könne nicht festgestellt werden, ob und in welcher Höhe ein Anspruch entstanden sei, der auf die Klägerin übergegangen sei. Gemäß § 254 Abs. 2 BGB müsse sich der Geschädigte ein Mitverschulden bei der Entstehung des Schadens zurechnen lassen. Es obliege dem Verletzten im Verhältnis zum Schädiger, seine verbliebene Arbei...