OWiG § 74
Leitsatz
Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) ist nicht nur dann verletzt, wenn der Betroffene daran gehindert wird, zu den für die gerichtliche Entscheidung erheblichen Tatsachen Stellung zu nehmen, sondern auch dann, wenn das Gericht eine Stellungnahme des Betroffenen nicht zur Kenntnis nimmt und bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt. (Leitsatz der Redaktion)
OLG Brandenburg, Beschl. v. 21.2.2024 – 1 ORbs 19/24
1 Sachverhalt
Gegen den Betroffenen erging ein Bußgeldbescheid in Höhe von 200 EUR. Nach Einspruch hat die Bußgeldrichterin des Amtsgerichts mit Verfügung vom 24.7.2023 Termin zur Hauptverhandlung auf den 10.10.2023 anberaumt und den Betroffenen sowie seinen Verteidiger förmlich geladen. Mit Anwaltsschriftsatz vom 24.9.2023 hat der Verteidiger für den Betroffenen beantragt, ihn von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden. Des Weiteren räumte der Betroffene mit vorgenanntem Anwaltsschriftsatz ein, Fahrzeugführer zur Tatzeit gewesen zu sein. Zugleich teilte er mit, in der Hauptverhandlung keine weiteren Angaben, insbesondere zur Sache, zu machen. Nachdem weder der Betroffene noch sein Verteidiger zum Hauptverhandlungstermin erschienen waren, hat das Bußgeldgericht gemäß § 74 Abs. 2 OWiG den Einspruch des Betroffenen verworfen. Den Antrag des Betroffenen auf Entbindung von der Pflicht zum Erscheinen hat der Bußgeldrichter nicht beschieden. Das OLG Brandenburg hat die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts zugelassen, das Urteil des Amtsgerichts aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.
2 Aus den Gründen:
[…] II. Der Senat folgt den Anträgen der Generalstaatsanwaltschaft.
1. Der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde ist gemäß § 79 Abs. 1 S. 2, 80 Abs. 1 OWiG statthaft und gemäß §§ 79 Abs. 3 Satz 1, 80 Abs. 3 S. 1 OWiG, §§ 341, 344, 345 StPO form- und fristgerecht bei Gericht angebracht worden.
2. Die Verwerfung des Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG kann als Prozessurteil nur mit der Verfahrensrüge beanstandet werden.
a) Die Antragsbegründung enthält eine den Erfordernissen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO i.V.m. §§ 79 Abs. 3, 80 Abs. 3 OWiG entsprechende Verfahrensrüge. Denn soweit im Grundsatz bei der Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs darzulegen ist, was der Beschwerdeführer im Falle der Gewährung rechtlichen Gehörs vorgetragen hätte, erfährt dieser Grundsatz dann eine Ausnahme, wenn gerügt wird, die Verwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG beruhe auf einer unterbliebenen oder auf einer rechtsunwirksamen Ablehnung, den Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) ist nicht nur dann verletzt, wenn der Betroffene daran gehindert wird, zu den für die gerichtliche Entscheidung erheblichen Tatsachen Stellung zu nehmen, sondern auch dann, wenn das Gericht eine Stellungnahme des Betroffenen nicht zur Kenntnis nimmt und bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt. Der Betroffene trägt in der Begründung seiner Rechtsbeschwerde vor, das Amtsgericht hätte kein Prozessurteil erlassen dürfen, sondern es hätte ihn auf seinen Antrag von der Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung entbinden und aufgrund einer Beweisaufnahme in seiner Abwesenheit eine Entscheidung in der Sache treffen müssen. Damit führt er zugleich in ausreichender Weise aus, dass das Recht auf Gehör unter dem zweiten der beiden genannten Aspekte verletzt worden sei.
b) Das Rechtsmittel hat mit der Verfahrensrüge der Verletzung rechtlichen Gehörs – vorläufigen – Erfolg. Der Senat lässt die Rechtsbeschwerde aus vorgenanntem Grund zu (§ 80 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 OWiG). Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das angefochtene Urteil des Amtsgerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Oranienburg zurückverwiesen, wobei eine Zurückverweisung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts nicht veranlasst ist.
aa) Mit der Verfahrensrüge trägt die Verteidigung zutreffend vor, dass der Betroffene vor der Hauptverhandlung durch seinen bevollmächtigten Verteidiger mit Schriftsatz vom 24.9.2023 beantragt habe, ihn von seiner Pflicht zur Teilnahme an der Hauptverhandlung zu entbinden, er räume jedoch ein, zur Tatzeit der Fahrer des eingemessenen Kraftfahrzeugs gewesen zu sein. Damit hat der Betroffene einen wirksamen Entbindungsantrag nach § 73 Abs. 2 OWiG gestellt. Ein solcher Antrag ist an keine bestimmte Form gebunden. Es reicht, dass das Antragsvorbringen erkennen lässt, dass der Betroffene nicht an der Hauptverhandlung teilnehmen will (KK-OWiG/Senge, § 73 Rn 16; Göhler/Seitz/Bauer, § 73 Rn 4; OLG Bamberg, Beschl. v. 25.3.2009 – 2 Ss OWi 1326/2008; OLG Brandenburg, Beschl. v. 5.11.2008 – 2 Ss (OWi) 180 B/08). Über diesen Entbindungsantrag hat das Amtsgericht nicht entschieden. Darin, dass das Amtsgericht den rechtzeitig angebrachten Entbindungsantrag übergangen und gleichwohl den Einspruch des Betroffenen wegen unentschuldigten Ausbleiben...