StVG § 7, VVG § 115, ZPO § 287, BGB §§ 249 ff.
Leitsatz
1. Bei einer psychischen Vorbelastung des Geschädigten gilt zunächst der Grundsatz, dass der Schädiger auch für eine psychische Fehlverarbeitung einzustehen hat, wenn eine hinreichende Gewissheit besteht, dass die psychisch bedingten Ausfälle ohne den Unfall nicht eingetreten wären. Eine unfallbedingte Mitverursachung reicht insoweit aus.
2. Bei einer psychischen Fehlverarbeitung des Unfallgeschehens kann die unfallbedingte Kausalität in drei Fallgruppen nicht gegeben sein: Bagatellunfall, Begehrensneurose des Geschädigten und überholende Kausalität.
3. Bei der "überholenden Kausalität" ist der Schaden dem Schädiger nicht (mehr) zuzurechnen, wenn infolge einer Vorerkrankung oder psychischen Disposition auch ohne das Unfallereignis der Schaden zu einem bestimmten Zeitpunkt ganz oder teilweise eingetreten wäre. Die Beweislast für das Vorliegen einer Reserveursache obliegt dem Schädiger, allerdings kommt auch ihm insoweit die Beweiserleichterung des § 287 ZPO zugute.
4. Befundberichte von behandelnden Ärzten haben für die Frage der Unfallbedingtheit nur indizielle Bedeutung. Für die behandelnden Ärzte steht die Therapie im Vordergrund, um dem Patienten Linderung zu verschaffen. Im Haftpflichtprozess kommt es hingegen auf die Unfallkausalität an, die durch medizinische Gerichtssachverständige ex post zu klären ist. Die Befundberichte der behandelnden Ärzte enthalten häufig nur subjektive Schilderungen ihrer Patienten zu Vorerkrankungen oder früheren Befunden, die objektiv nicht verifiziert oder abgeklärt worden sind.
5. Bei der Schmerzensgeldbemessung wirkt sich eine spezielle Schadensanfälligkeit oder eine unangemessene Erlebnisverarbeitung des Geschädigten in der Regel anspruchskürzend aus. Diese beschränkende Wirkung gilt auch im Fall einer psychischen Fehlverarbeitung des Unfallgeschehens durch den Geschädigten.
OLG Schleswig, Urt. v. 19.3.2024 – 7 U 93/23
1 Sachverhalt
I. Die Parteien streiten um Ansprüche nach einem Verkehrsunfall.
Der am 1952 geborene Kläger nimmt die Beklagte als Kfz-Haftpflichtversicherer auf materiellen und immateriellen Schadenersatz sowie umfassende Feststellung aus einem Verkehrsunfall in Anspruch.
Am 23.8.2014 gegen 21:00 Uhr kam der Kläger auf der A-Straße in P. mit seinem Motorrad zu Fall, nachdem ihm durch ein bei der Beklagten versichertes Fahrzeug die Vorfahrt genommen wurde. Zu einer Kollision der beteiligten Fahrzeuge kam es dabei nicht. Die volle Haftung der Beklagten als Haftpflichtversicherer des Unfallgegners ist dem Grunde nach unstreitig. Der Kläger wurde noch am Unfallort notärztlich behandelt und ins Universitätsklinikum E. eingeliefert, wo er vom 23.8.2014 bis 2.9.2014 stationär behandelt wurde. Der Kläger erlitt durch den Unfall eine – allerdings erst später diagnostizierte – Fraktur der 8. Rippe rechts. Vom erstversorgenden Notarzt wurde eine Glasgow-Coma-Scale (GCS) von 7 ermittelt. Um die Atemwege freizuhalten, kam es noch am Unfallort zu einer Propofolnarkose mit einer Intubation des Klägers. Ob er unfallbedingt ein Schädel-Hirn-Trauma und/oder psychische Beeinträchtigungen erlitten hat, ist streitig.
Nach dem Entlassungsbericht zeigte sich seinerzeit kein neurologisches Defizit. Auf Seite 4 des Berichts heißt es unter anderem "zudem unruhig-überreizt", "Patient psychomotorisch angespannt-hypersensitiv auffällig" und "psychomotorische Unruhe". Als Empfehlung wurde die Vorstellung zur stationären Aufnahme in einer psychosomatischen Klinik ausgesprochen. Zur Diagnose heißt es "Motorradunfall mit Verdacht auf Schädel-Hirn-Trauma", auf Seite 4 des Berichts "Verdacht auf leichtes SHT". Auf Seite 5 des Berichtes heißt es weiter, einzelne Rippenprellungen könnten nicht nachgewiesen werden. Zum Ergebnis einer Computertomografie vom Hirnschädel am 23.8.2004 heißt es auf Seite 7 des Berichts unter Beurteilung: "Kein wegweisender pathologischer Befund, insbesondere kein Anhalt für frische Ischämie bei CT-grafisch regelrechter Gefäßdarstellung. Keine intrakranielle Traumafolge, kein Frakturnachweis". Die Rippenfraktur wurde zunächst unstreitig im Universitätsklinikum E. nicht erkannt.
Noch am Entlassungstag, dem 2.9.2014, erschien der Kläger bei seinem Hausarzt Dr. B., in dessen Praxis er seit 2003 medizinisch betreut wird. Er berichtete dort von seiner Situation. In einem Attest dieses Arztes vom 26.6.2019 heißt es unter anderem:
"Gesundheitszustand bei Verunfallung: Herr X. befand sich nach erfolgreicher psychologischer Behandlung sowie Genesung seines Hüftleidens in guter körperlicher Verfassung, plante einen Urlaub mit seinen Söhnen. Gesundheitszustand nach dem Unfall vom 23.8.2014: Herr X. erschien am 2.9.2014 in meiner Praxis und gab an, am heutigen Tag nach einem schweren Verkehrsunfall aus dem Krankenhaus entlassen worden zu sein. Wir erlebten einen Patienten, wie wir ihn bisher nicht gekannt haben. Er erschien völlig verzweifelt, traumatisiert, unkonzentriert, hilflos. Am darauffolgenden Tag musste Herr X. dann als Notfall ins Krankenhaus W. ...