Entscheidungsstichwort (Thema)
Bei einer psychischen Fehlverarbeitung des Unfallgeschehens kann die unfallbedingte Kausalität in drei Fallgruppen nicht gegeben sein: Bagatellunfall, Begehrensneurose des Geschädigten und überholende Kausalität.
Leitsatz (amtlich)
1. Das erleichterte Beweismaß des § 287 ZPO bezieht sich auf den ursächlichen Zusammenhang zwischen primärer Rechtsgutverletzung und den - hieraus resultierenden - weiteren Gesundheitsschäden des Verletzten (Sekundärschäden). Zur Überzeugungsbildung des Gerichts genügt insoweit die hinreichende bzw. überwiegende Wahrscheinlichkeit.
2. Bei einer psychischen Vorbelastung des Geschädigten gilt zunächst der Grundsatz, dass der Schädiger auch für eine psychische Fehlverarbeitung einzustehen hat, wenn eine hinreichende Gewissheit besteht, dass die psychisch bedingten Ausfälle ohne den Unfall nicht eingetreten wären. Eine unfallbedingte Mitverursachung reicht insoweit aus.
3. Bei einer psychischen Fehlverarbeitung des Unfallgeschehens kann die unfallbedingte Kausalität in drei Fallgruppen nicht gegeben sein: Bagatellunfall, Begehrensneurose des Geschädigten und überholende Kausalität.
4. Bei der "überholenden Kausalität" ist der Schaden dem Schädiger nicht (mehr) zuzurechnen, wenn infolge einer Vorerkrankung oder psychischen Disposition auch ohne das Unfallereignis der Schaden zu einem bestimmten Zeitpunkt ganz oder teilweise eingetreten wäre. Die Beweislast für das Vorliegen einer Reserveursache obliegt dem Schädiger, allerdings kommt auch ihm insoweit die Beweiserleichterung des § 287 ZPO zugute.
5. Befundberichte von behandelnden Ärzten haben für die Frage der Unfallbedingtheit nur indizielle Bedeutung. Für die behandelnden Ärzte steht die Therapie im Vordergrund, um dem Patienten Linderung zu verschaffen. Im Haftpflichtprozess kommt es hingegen auf die Unfallkausalität an, die durch medizinische Gerichtssachverständige ex post zu klären ist. Die Befundberichte der behandelnden Ärzte enthalten häufig nur subjektive Schilderungen ihrer Patienten zu Vorerkrankungen oder früheren Befunden, die objektiv nicht verifiziert oder abgeklärt worden sind.
6. Bei der Schmerzensgeldbemessung wirkt sich eine spezielle Schadensanfälligkeit oder eine unangemessene Erlebnisverarbeitung des Geschädigten in der Regel anspruchskürzend aus. Diese beschränkende Wirkung gilt auch im Fall einer psychischen Fehlverarbeitung des Unfallgeschehens durch den Geschädigten.
Normenkette
BGB § 249 ff., §§ 252, 823 Abs. 1, § 843; StVG § 7; VVG § 115; ZPO § 287
Tenor
Auf die Berufungen der Beklagten vom 10.07.2023 und des Klägers vom 17.07.2023 wird das am 15.06.2023 verkündete Urteil des Einzelrichters der 6. Zivilkammer des Landgerichts Itzehoe - unter Zurückweisung der Berufungen im Übrigen - teilweise geändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger einen Verdienstausfallschaden i.H.v. 8.772,01 EUR sowie ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 11.000,00 EUR jeweils zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 11.12.2017 und vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 1.171,67 EUR zu zahlen.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
4. Von den Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen tragen der Kläger 91 % und die Beklagte 9 %.
5. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Den Parteien wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch die jeweils andere Partei durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund dieses Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Gründe
I. Die Parteien streiten um Ansprüche nach einem Verkehrsunfall.
Der am 1952 geborene Kläger nimmt die Beklagte als Kfz-Haftpflichtversicherer auf materiellen und immateriellen Schadenersatz sowie umfassende Feststellung aus einem Verkehrsunfall in Anspruch.
Am 23.08.2014 gegen 21:00 Uhr kam der Kläger auf der A- Straße in P. mit seinem Motorrad zu Fall, nachdem ihm durch ein bei der Beklagten versichertes Fahrzeug die Vorfahrt genommen wurde. Zu einer Kollision der beteiligten Fahrzeuge kam es dabei nicht. Die volle Haftung der Beklagten als Haftpflichtversicherer des Unfallgegners ist dem Grunde nach unstreitig. Der Kläger wurde noch am Unfallort notärztlich behandelt und ins Universitätsklinikum E. eingeliefert, wo er vom 23.08.2014 bis 02.09.2014 stationär behandelt wurde. Der Kläger erlitt durch den Unfall eine - allerdings erst später diagnostizierte - Fraktur der 8. Rippe rechts. Vom erstversorgenden Notarzt wurde eine Glasgow-Coma-Scale (GCS) von 7 ermittelt. Um die Atemwege freizuhalten, kam es noch am Unfallort zu einer Propofolnarkose mit einer Intubation des Klägers. Ob er unfallbedingt ein Schädel-Hirn-Trauma und/oder psychische Beeinträchtigungen erlitten hat, ist streitig.
Nach dem Entlassungsbericht zeigte sich seinerzeit kein neurologisches Defizit. Auf Seite 4 des Berichts heißt es unte...