GG Art. 2 Abs. 1 Art. 20 Abs. 3; ThürVerf Art. 3 Abs. 2 Art. 44 Abs. 1 S. 2 Art. 88 Abs. 1 S. 2, S. 3; OWiG § 62; StPO § 147
Leitsatz
1a. Art 88 Abs. 1 S. 2 ThürVerf gewährleistet für das Strafverfahren über den Anspruch auf rechtliches Gehör hinaus, sich zu verteidigen. Art 88 Abs. 1 S. 3 ThürVerf gewährleistet für alle gerichtlichen Verfahren, sich eines rechtlichen Beistandes bedienen zu können.
1b. Das inhaltlich mit seiner grundgesetzlichen Gewährleistung deckungsgleiche Rechtsstaatsprinzip des Art 44 Abs. 1 S. 2 ThürVerf garantiert i.V.m. dem allgemeinen Freiheitsrecht des inhaltsgleich zu Art. 2 Abs. 1 GG ausgestalteten Art. 3 Abs. 2 ThürVerf das Recht des Beschuldigten auf ein rechtsstaatliches und faires Strafverfahren. Dieses Verfassungsgebot ist nicht nur Regelungsauftrag an den Gesetzgeber. Es ist auch Leitlinie für die Gerichte, die den Strafprozess mit seinen möglichen weitreichenden Folgen für Beschuldigte nicht auf eine Weise führen dürfen, dass sie zum bloßen Objekt des Verfahrens werden. Dem ist nur genügt, wenn Beschuldigte nicht nur theoretisch, sondern auch tatsächlich die Möglichkeit erhalten, zur Wahrung ihrer Rechte aktiv auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen (VerfGH Weimar, 12.11.2002, 12/02 <RIS Rn 21>). Dieser Maßstab gilt auch für Ordnungswidrigkeitenverfahren (vgl. BVerfG, 20.6.2023, 2 BvR 1167/20 <RIS Rn 32 ff.>).
2. Hier:
2a. Der VerfGH macht sich die vom BVerfG in seinem Nichtannahmebeschluss (20.6.2023, 2 BvR 1167/20 <Rn 37 ff.>) formulierten Maßstäbe zu eigen.
aa. Danach ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn Fachgerichte in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren von einer reduzierten Sachverhaltsaufklärungs- und Darlegungspflicht im Fall eines standardisierten Messverfahrens ausgehen (vgl. BVerfG, 12.11.2020, 2 BvR 1616/18 <Rn 39 ff.>).
bb. Um dem aus dem Grundsatz des Rechts auf ein faires Verfahren resultierenden Gedanken der "Waffengleichheit" hinreichend Rechnung zu tragen, ist es denkbar, dass der Betroffene aus Gründen der verfassungsrechtlich gebotenen "Waffengleichheit" zwischen den Verfolgungsbehörden einerseits und dem Betroffenen in einem Bußgeldverfahren andererseits auch Zugang zu - zwar nicht in der Bußgeldakte, aber bei der Bußgeldbehörde - vorhandenen Informationen verlangen kann (vgl. hierzu BVerfG, 12.11.2020, 2 BvR 1616/18 <Rn 50 ff.>). Ob auch "Rohmessdaten" zu diesen herauszugebenden Informationen zählen können, haben die Bußgeldbehörden beziehungsweise die Fachgerichte im Einzelfall zu entscheiden (BVerfG a.a.O. <Rn 58>).
2b. Im Hinblick darauf kommt eine Verletzung des Beschwerdeführers in seinem Recht auf ein faires Verfahren nicht in Betracht, weil die begehrten Rohmessdaten auch bei der Behörde nicht vorhanden und auch im Übrigen keine Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Messung im fachgerichtlichen Verfahren vorgetragen worden sind.
Thüringer Verfassungsgerichtshof, Beschl. v. 3.4.2024 – 107/20
1 Aus den Gründen:
“… Zwar ist denkbar, dass der Beschwerdeführer aus Gründen der verfassungsrechtlich gebotenen “Waffengleichheit zwischen den Verfolgungsbehörden einerseits und dem Betroffenen in einem Bußgeldverfahren andererseits auch Zugang zu - zwar nicht in der Bußgeldakte, aber bei der Bußgeldbehörde - vorhandenen Informationen verlangen kann (vgl. hierzu BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18, Rn 50 ff.). Ob auch die vom Beschwerdeführer bezeichneten “Rohmessdaten zu diesen herauszugebenden Informationen zählen können, haben die Bußgeldbehörden beziehungsweise die Fachgerichte im Einzelfall zu entscheiden (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 –, Rn 58).
Der Beschwerdeführer schlussfolgert jedoch, der aus dem Grundsatz des Rechts auf ein faires Verfahren resultierende Gedanke der Waffengleichheit gebiete es darüber hinaus, dass die zuständigen Behörden nur Geräte einsetzen, die sogenannte "Rohmessdatn" erheben. Damit verlangt er ein Mehr im Vergleich zur bloßen Herausgabe von vorhandenen Informationen, weil nach seinem Vorbringen auch die Bußgeldbehörde nicht im Besitz der von ihm bezeichneten "Rohmessdaten" ist. Der Beschwerdeführer legt insofern nicht substantiiert dar, dass aus dem verfassungsrechtlich verankerten Recht auf ein faires Verfahren - aus Gründen der "Waffengleichheit" oder in sonstiger Hinsicht - auch eine staatliche Pflicht folgt, potentielle Beweismittel zur Wahrung von Verteidigungsrechten vorzuhalten beziehungsweise zu schaffen. Dies gilt erst recht in Anbetracht der besonderen Substantiierungsanforderungen im Falle von Handlungspflichten der öffentlichen Gewalt (vgl. etwa BVerfGE 56, 54 <80 f.>; 77, 170 <214 f.>; 158, 170 <190 ff. Rn 48 ff.>; 160, 79 <104 f. Rn 69 ff.>; BVerfGK 14, 192 <199 ff.>; 20, 320 <324 f.> zur Darlegung von Schutzpflichtverletzungen) und der vom Beschwerdeführer geforderten Ausweitung der Verteidigungsrechte im Lichte der bisherigen Rspr. des BVerfG zum Recht auf ein faires Verfahren. Auch in der obergerichtlichen Rechtsprechung wird nahezu einhellig abgelehnt, dass aus dem Recht auf gl...