MRK Artikel 6 Abs. 2c; StPO §§ 267, 228 Abs. 2; OWiG § 71 Abs. 1
Leitsatz
1. Aus dem Gebot des fairen Verfahrens folgt das Recht des Betroffenen auf Verteidigung. Dieses Recht ist sowohl bei der Terminsbestimmung als auch bei Entscheidungen über Anträge auf Terminsverlegung oder Aussetzung der Hauptverhandlung zu beachten und auch im Bußgeldverfahren nicht auf die Fälle notwendiger Verteidigung beschränkt. Vielmehr ist es eine Frage des Einzelfalls, ob es die Fürsorgepflicht des Gerichts gebietet, die Hauptverhandlung in Anwesenheit des Verteidigers durchzuführen, wenn es nach der Bedeutung der Bußgeldsache und ihrer tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten dem Betroffenen nicht zuzumuten war, sich selbst zu verteidigen
2. Bei dem "Provida/PPS"-System handelt es sich nicht um ein für Abstandsmessungen anerkanntes standardisiertes Messverfahren. Deshalb genügt die Bezeichnung des Verfahrens nicht, sondern die Auswertung und Berechnung müssen, um eine Überprüfung zu ermöglichen, in den Urteilsgründen verständlich und widerspruchsfrei dargelegt werden.
3. Die Entscheidung, ob trotz Vorliegens eines Regelfalls der konkrete Sachverhalt Ausnahmecharakter hat und demgemäß von der Verhängung eines Fahrverbotes abgesehen werden kann, unterliegt in erster Linie der Beurteilung durch den Tatrichter, dessen Entscheidung vom Rechtsbeschwerdegericht im Zweifel "bis zur Grenze des Vertretbaren" hinzunehmen ist. Der Tatrichter muss jedoch für seine Entscheidung eine eingehende, auf Tatsachen gestützte Begründung geben.
4. Nach einem Zeitraum von mehr als zwei Jahren zwischen Tat und der letzten tatrichterlichen Verhandlung kann ein Fahrverbot eine Warnungs- und Besinnungsfunktion nicht mehr wahrnehmen und deswegen – grundsätzlich – nicht mehr verhängt werden.
(Leitsätze der Schriftleitung)
OLG Hamm, Beschl. v. 9.2.2009 – 4 Ss OWi 6/09
Sachverhalt
Das AG hat gegen den Betroffenen durch in Abwesenheit des Betroffenen und seines schriftlich bevollmächtigten Verteidigers verkündetes Urt. v. 17. April 2008 wegen vorsätzlicher Unterschreitung des erforderlichen Mindestabstandes eine Geldbuße von 150 EUR sowie ein Fahrverbot von zwei Monaten festgesetzt.
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen hebt das OLG das Urteil mit den getroffenen Feststellungen auf und verweist die Sache im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des AG zurück.
Aus den Gründen
Aus den Gründen: „ … II. … . Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Zuschrift an den Senat vom 26. Januar 2009 Folgendes ausgeführt:
" … . Mit seiner rechtzeitig eingelegten und form- und fristgerecht begründeten Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene mit näheren Ausführungen die Verletzung formellen und materiellen Rechts."
Zur Rüge der Verletzung formellen Rechts:
Soweit der Betroffene rügt, die Beweisanträge der Verteidigung seien nicht beschieden worden, genügt die Rüge bereits nicht den Formerfordernissen des § 344 Abs. 2 StPO. Zum notwendigen Rechtsbeschwerdevorbringen gehört bei der Rüge der Nichtbescheidung eines Antrags die inhaltliche Mitteilung des Beweisantrages (zu vgl. Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl., Rn 85 zu § 244 m.w.N.). In der Begründungsschrift wird aber nur mitgeteilt, dass Beweisanträge verlesen wurden, diese jedoch weder in der Hauptverhandlung noch im Urteil beschieden worden sind.
Die Rüge der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren und die Verletzung rechtlichen Gehörs ist zulässig und begründet. Das aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Recht eines Betroffenen auf ein faires Verfahren und die damit korrespondierende Pflicht des Gerichts zur prozessualen Fürsorge ist verletzt.
Aus dem Gebot des fairen Verfahrens folgt das Recht des Betroffenen auf Verteidigung (Art. 6 Abs. 2c MRK). Dieses Recht ist sowohl bei der Terminsbestimmung als auch bei Entscheidungen über Anträge auf Terminsverlegung oder Aussetzung der Hauptverhandlung zu beachten (zu vgl. BGH StV 1981, 89) und auch im Bußgeldverfahren trotz § 228 Abs. 2 StPO, § 71 Abs. 1 OWiG nicht auf die Fälle notwendiger Verteidigung beschränkt. Vielmehr ist es eine Frage des Einzelfalls, ob es die Fürsorgepflicht des Gerichts gebietet, die Hauptverhandlung in Anwesenheit des Verteidigers durchzuführen, wenn es nach der Bedeutung der Bußgeldsache und ihrer tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten dem Betroffenen nicht zuzumuten war, sich selbst zu verteidigen (zu vgl. OLG Köln, DAR 2005, 576 m.w.N.).
Aus dem Umstand, dass der Tatrichter die unterbrochene Hauptverhandlung entgegen dem Einwand des Verteidigers am Mittag des 17.4.2008 fortgesetzt hat, ist zu schließen, dass er die Belange des Betroffenen nicht ausreichend berücksichtigt hat. Insbesondere im Hinblick auf die für den Betroffenen nicht unerheblichen möglichen Folgen, nämlich ein zweimonatiges Fahrverbot, bestand für ihn ein besonderes Interesse daran, sich durch einen seiner gewählten Verteidiger in der Hauptverhandlung vertreten zu lassen. Dies gilt gerade auch deshalb, weil der Betroffene selbst von der Anwesenheitspflicht in der Hauptverh...