Tod durch Verkehrsunfall – eine Absurdität?
In das Jahr 2010 fällt der 50. Todestag von Albert Camus, des Dichters des Absurden, der am 4.1.1960 starb. Er war es, der den (tödlichen) Verkehrsunfall gleichsam zum Chiffre des Absurden stilisiert hat. Wie sein Biograf Olivier Todt berichtet, sagte Camus zu seinen Freunden oft, es gebe nichts Absurderes, als bei einem Autounfall ums Leben zu kommen. Für einen Unfallrekonstrukteur mag das unplausibel klingen, wird er doch meistens in der Lage sein, einen Verkehrsunfall mit technischen Mängeln oder menschlichem Versagen zu erklären. Mit einem derartigen naturwissenschaftlichen Diskurs lässt sich indessen Camus' Verständnis von Absurdität nicht einfangen.
Für ihn liegt das Absurde, wie besonders Sartre in einer Studie herausgearbeitet hat, in der unüberbrückbaren Kluft zwischen der Sehnsucht des Menschen nach Verstehen sowie seinem Streben nach Ewigem einerseits und der Stummheit des Kosmos sowie der Endlichkeit der Existenz andererseits. Der Mensch muss "die primitive Feindseligkeit der Welt" ertragen. Seine Helden des Absurden verkörpern Meursault in dem Roman "Der Fremde" und Sisyphos in dem literaturhistorischen Essay "Der Mythos von Sisyphos".
Meursault, ein Büroangestellter, beginnt am Tage nach der Beerdigung seiner von ihm nicht beweinten Mutter ein Verhältnis mit Marie, die er beim Baden getroffen hat. An einem der folgenden Sonntage erschießt er ohne erkennbares Motiv "wegen der Sonne" einen Araber. Ihm wird deswegen der Prozess gemacht, in dem weniger die Erhellung der Hintergründe der Tat als die Lebensführung des Angeklagten eine Rolle spielen, und der mit einem Todesurteil endet. Die Schilderung dieses Prozesses offenbart Camus´ totale Distanz zur Welt der Gerichte. Dem Leser wird vorgeführt, wie der Protagonist allmählich ein Gefühl für das Absurde seiner Existenz bekommt. So recht bewusst wird sich der Held des Romans der Absurdität seiner Situation erst kurz vor seiner Hinrichtung. Er wird, wie es Sartre in seiner Abhandlung über diesen Roman feinfühlig ausgedrückt hat, der Gnade des Absurden teilhaftig. Er lehnt jede religiöse Tröstung schroff ab. Bei der Betrachtung des Sternenhimmels im Gefängnis wird er plötzlich "zum ersten Mal empfänglich für die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt" und fühlt, dass er "glücklich gewesen war und immer noch glücklich ist". In der Vorstellung Camus´ sind das Absurde und das Glück wie kommunizierende Röhren miteinander verzahnt. Für die Gesellschaft bleibt Meursault ein Fremder.
In dem bereits angesprochenen "Mythos von Sisyphos" modelliert Camus die Gestalt der antiken Figur neu. Sisyphos ist von Zeus dazu verurteilt worden, bis in alle Ewigkeit einen riesigen Felsbrocken einen Berg hinauf zu rollen und das Werk von Neuem zu beginnen, nachdem der Fels im letzten Augenblick wieder herabgerollt ist. Er interessiert Camus auf dem Rückweg zum Fuße des Berges. "Sisyphos, der ohnmächtige und rebellische Prolet der Götter, kennt das ganze Ausmaß seiner unglückseligen Lage". Er erkennt damit auch deren Absurdität, entscheidet sich aber dennoch dafür, den Fels immer wieder hinauf zu rollen, anstatt etwa Selbstmord zu begehen. Darin liegt seine Würde. "Das Wissen, das seine eigentliche Qual bewirken sollte, vollendet gleichzeitig seinen Sieg". Das Essay endet mit dem provozierenden Satz: "Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen". Erneut kommt die Vernetzung von Glück und Absurdität zur Sprache. Sisyphos´ Glück liegt ähnlich wie das Glück Meursaults darin, sich ohne Selbstbetrug und Heuchelei mit seiner Lage abzufinden und das Absurde an ihr zu akzeptieren.
Das Schicksal Meursaults und Sisyphos´ vor Augen ahnt man, wie absurd es Camus vorkommen muss, durch ein ebenso zufälliges wie sinnloses Ereignis wie einen Verkehrsunfall den Tod zu erleiden. Es mutet geradezu gespenstisch an, wie er am Ende von seinem Szenario des Absurden eingeholt wird, wurde Camus selbst doch ausgerechnet Opfer eines Verkehrsunfalls.