OWiG § 74 Abs. 2
Leitsatz
1. Sind überraschend weder der Betroffene noch sein Verteidiger zum Termin erschienen, muss sich der Tatrichter aufgrund seiner Fürsorge- und Aufklärungspflicht vor Erlass eines Verwerfungsurteils nach § 74 Abs. 2 OWiG bei der Geschäftsstelle vergewissern, ob eine Mitteilung über die Verhinderung des Betroffenen vorliegt.
2. Die den Tatrichter treffende Nachforschungspflicht vor Verwerfung eines Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG gebietet es nicht, dass er bei allen möglichen und zugelassenen Einlaufstellen für digitale und physikalische Post ermittelt, ob Hinweise für eine Entschuldigung vorliegen.
KG, Beschl. v. 26.2.2020 – 3 Ws (B) 50/20 – 162 Ss 16/20
Sachverhalt
Das KG hat den Antrag des Betr. auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des AG verworfen.
2 Aus den Gründen:
"… Ergänzend merkt der Senat an:"
Mit seiner zulässig erhobenen Verfahrensrüge, das AG habe mit der Verwerfung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid gegen § 74 Abs. 2 OWiG verstoßen, dringt der Betr. in der Sache nicht durch. Die Rechtsbeschwerde beanstandet zu Unrecht, dass der Tatrichter einen rechtzeitig eingegangenen Antrag auf Terminsverlegung unbeachtet gelassen und dadurch seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt habe. Das AG hat den Einspruch nach § 74 Abs. 2 OWiG rechtsfehlerfrei verworfen.
Das Gericht darf den Einspruch nach § 74 Abs. 2 OWiG nur verwerfen, wenn der Betr. ohne genügende Entschuldigung ausgeblieben ist. Entscheidend ist nicht, ob sich der Betr. entschuldigt hat, sondern ob er entschuldigt ist. Daher muss der Tatrichter von Amts wegen prüfen, ob Umstände ersichtlich sind, die das Ausbleiben des Betr. genügend entschuldigen (vgl. zu § 329 StPO BGHSt 17, 391). Ergeben sich konkrete Hinweise auf einen Entschuldigungsgrund, so muss er ihnen nachgehen. Da erfahrungsgemäß die Geschäftsstelle eines Gerichts auch noch kurz vor einem Termin davon verständigt wird, dass der Betr. verhindert sei, muss sich der Tatrichter, wenn überraschend weder der Betr. noch sein Verteidiger zum Termin erschienen sind, aufgrund seiner Fürsorge- und Aufklärungspflicht vor Erlass eines Verwerfungsurteils bei der Geschäftsstelle vergewissern, ob eine Mitteilung über die Verhinderung des Betr. vorliegt (vgl. BayObLG VRS 83, 56; OLG Köln VRS 102, 382; OLG Stuttgart Justiz 1981, 288). Das Rechtsbeschwerdegericht hat daher grds. zu prüfen, ob der Tatrichter dieser Aufklärungspflicht nachgekommen ist (vgl. BayObLG a.a.O.). War auf der Geschäftsstelle bereits ein Entschuldigungsschreiben oder eine entsprechende fernmündliche Nachricht über eine Verhinderung des Betr. zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts über die Verwerfung des Einspruchs bei Gericht eingegangen, ist die fehlende Kenntnis des Richters belanglos (vgl. Senat NZV 2009, 518; 2003, 586 und Beschl. v. 4.9.2000 – 3 Ws (B) 373/00, juris; OLG Köln VRS 102, 382; OLG Stuttgart a.a.O.; OLG Brandenburg NStZ-RR 1997, 275; Senge in Karlsruher Kommentar, OWiG 5. Aufl., § 74 Rn 35).
Hier liegt der Fall jedoch anders. Der Verlegungsantrag der Verteidigerin ging zwar am Sitzungstag, dem 13.12.2019, etwa 1 ¼ Stunden vor Sitzungsbeginn im elektronischen Postfach des AG Tiergarten ein, hat die Geschäftsstelle des Gerichts ausweislich eines entsprechenden richterlichen Vermerks jedoch erst am 16.12.2019 erreicht. Dass der Amtsrichter vor seiner Verwerfungsentscheidung auf andere Weise vom Verlegungsantrag Kenntnis erlangt hat, ist der Akte nicht zu entnehmen und vom Betr. auch nicht vorgetragen worden, so dass eine positive Kenntnis des Richters ausscheidet.
Er muss sich auch nicht, wovon der Betr. offenbar ausgeht, etwaiges Wissen von Mitarbeitern des Gerichts (hier der Postannahmestelle des AG, die die Eingänge von elektronischen Schriftsätzen nach § 32a StPO verwaltet) zurechnen lassen. Denn Anknüpfungspunkt ist § 77 Abs. 1 OWiG, wonach allein das erkennende Gericht die Pflicht zur Aufklärung und Nachforschung trifft. Abzustellen ist deswegen – wie dargelegt – allein darauf, ob der erkennende Richter bei Beschlussfassung Kenntnis vom Verlegungsantrag hat bzw. hätte haben können. Die ihn treffende Nachforschungspflicht vor Verwerfung eines Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG gebietet es nicht, dass er bei allen möglichen und zugelassenen Einlaufstellen für digitale und physikalische Post ermittelt, ob Hinweise für eine Entschuldigung vorliegen (vgl. Senat NZV 2015, 253; OLG Bamberg NZV 2009, 355; OLG Köln VRS 93. 357; Seitz/Bauer in Göhler, OWiG 17. Aufl., § 74 Rdn 31; Senge a.a.O.). Erkundigungen, die über Nachforschungen auf der Geschäftsstelle hinausgehen, können insb. bei großen Gerichten, wie dem AG Tiergarten als dem größten AG Deutschlands, angesichts eines üblicherweise dynamisch und komplex verlaufenden Sitzungstages nicht verlangt werden (vgl. Senat a.a.O.). Will der Betr., dass Anträge oder eilbedürftige Nachrichten den erkennenden Richter rechtzeitig erreichen, bleibt es ihm unbenommen, sich an die Geschäftsstelle des Gerichts zu wenden.“
3 Anmerkung:
Man ist ja von der Berliner Landesverwaltung allerlei...