BGB § 305 Abs. 1 § 305c Abs. 1, Abs. 2 § 307 Abs. 2 Nr. 2; VVG § 1
Leitsatz
Ist in den Bedingungen einer sog. Dread-Disease-Versicherung eine vom Vertrag umfasste schwere Erkrankung als eine "durch Kopfverletzung herbeigeführte irreversible Schädigung des Gehirns mit dauerhaften neurologischen Ausfällen oder gravierenden Beeinträchtigungen der intellektuellen Fähigkeiten" beschrieben, so liegt kein Versicherungsfall vor, wenn die geltend gemachte Hirnschädigung durch Substanzen verursacht worden sein soll, die die versicherte Person mit der Nahrung (hier: durch einen Säugling mit der Muttermilch) aufgenommen hat. Es fehlt in einem solchen Fall an der bedingungsgemäßen Kopfverletzung.
OLG Nürnberg, Beschl. v. 4.5.2021 – 8 U 91/21
Sachverhalt
Die Parteien streiten über Ansprüche aus einer fondsgebundenen Lebensversicherung, die auch Versicherungsschutz gegen bestimmte schwere Krankheiten gewährt (sog. Dread-Disease-Versicherung) und die der Kläger seit Januar 2010 bei der Beklagten unterhält Darin sind die Kinder des Versicherungsnehmers bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres mitversichert. In Anlage 1 zu den AVB sind die versicherten schweren Krankheiten aufgeführt.
Hintergrund des Rechtsstreits ist, dass die am 21.9.2009 geborene Tochter des Klägers an einer Narkolepsie mit Kataplexie und Halluzinationen leidet. Der Kläger macht geltend, seine Ehefrau habe am 25.11.2009 eine Influenza-Impfung mit dem Präparat "Pandemrix" erhalten. Während dieser Zeit habe sie die gemeinsame Tochter gestillt. Hierdurch sei die Narkolepsie ausgelöst worden. Die Beklagte hat ihre Einstandspflicht vorgerichtlich abgelehnt.
2 Aus den Gründen:
Zu Recht und mit überzeugender Begründung hat das LG einen Anspruch des Klägers aus § 3 Buchst. A Nr. 1 AVB verneint. Mit den hiergegen erhobenen Einwendungen kann die Berufung nicht durchdringen.
1. Der gegenständliche Versicherungsvertrag gewährt neben dem Todesfallschutz auch Schutz gegen den Eintritt bestimmter schwerer Krankheiten beim Versicherungsnehmer oder mitversicherten Personen durch Zahlung des vertraglich vereinbarten Einmal-Betrages. Wie sich aus § 3 Buchst. A Nr. 1 AVB zweifelsfrei ergibt, setzt dieser Versicherungsfall voraus, dass bei der versicherten Person eine der in Anlage 1 aufgeführten Krankheiten endgültig diagnostiziert und 14 Tage lang überlebt worden ist.
Die Narkolepsie, unter der die mitversicherte Tochter des Klägers leidet, stellt schon nach klägerischem Vortrag keine in Anlage 1 zu den AVB aufgeführte Erkrankung dar. Dies hat die Vorinstanz fehlerfrei entschieden, ohne dass hierüber Beweis erhoben werden musste.
a) In Betracht kommt nur eine in Nr. 27 der Anlage 1 aufgeführte "Schwere Kopfverletzung". Diese Klausel lautet (Hervorhebungen durch den Senat):
"Eine durch Kopfverletzung herbeigeführte irreversible Schädigung des Gehirns, mit dauerhaften neurologischen Ausfällen (z.B. Hörstörungen, Sehstörungen, Gefühlsstörungen, Sprechstörungen, Schluckstörungen, Lähmungen, Gehstörungen, Krampfanfällen) oder gravierenden Beeinträchtigungen der intellektuellen Fähigkeiten (z.B. Merkfähigkeitsstörungen, Konzentrationsstörungen, Persönlichkeitsveränderungen u.a.). Die Beeinträchtigungen und ihr Ausmaß müssen durch einen Arzt für Neurologie/Psychiatrie oder einen Neurochirurgen nachgewiesen werden."
Bei der Definition der versicherten schweren Krankheiten in Anlage 1 zu den AVB handelt es sich unzweifelhaft um AVB i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 1 VVG, § 305 Abs. 1 BGB. Solche Versicherungsbedingungen sind nach st. Rspr so auszulegen, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen muss. (…).
Gemessen daran ist für jeden durchschnittlichen Versicherungsnehmer bei Lektüre der Klausel Nr. 27 klar und unmissverständlich erkennbar, dass die irreversible Hirnschädigung durch eine Kopfverletzung verursacht worden sein muss, um einen Versicherungsfall auszulösen. Es kommt also – deutlich ersichtlich – nicht allein auf den dauerhaften neurologischen Befund an, sondern auch darauf, auf welche Weise die Erkrankung herbeigeführt worden ist.
Einem durchschnittlichen Versicherungsnehmer erschließt sich der Begriff der Kopfverletzung – mangels näherer Anhaltspunkte in der Klausel selbst – unter Rückgriff auf den allgemeinen Sprachgebrauch (vgl. BGH, NJW-RR 2006, 1322). Im Allgemeinen wird unter einer "Verletzung" die Schädigung oder Verwundung einer Körperpartie (Haut, Gewebe, Knochen) durch physische Einwirkung von außen verstanden, namentlich durch mechanische Gewalt (z.B. Schlag, Stoß, Aufprall), thermische Energie (z.B. Verbrennung) oder chemische Einwirkung (z.B. Verätzung durch Säure). Gesundheitliche Beeinträchtigungen ohne derartige Einwirkungen (z.B. angeborene Leiden, Tumorbildung, Altersdemenz) bezeichnet der allgemeine Sprachgebrauch hingegen nicht als "Verletzung", sondern schlicht als "Erkrankung".
Die in der Klausel Nr. 27 beschriebene Erkrankung verlangt folglich eine physische Einwirkung auf den Kopf...