BGB § 253; StVG § 7 § 17 Abs. 1; ZPO § 287 Abs. 1
Leitsatz
1. Sind nach einem Verkehrsunfall Wirbelsäulenverletzungen des Geschädigten streitig, ist eine Begutachtung durch einen erfahrenen Facharzt für Orthopädie notwendig.
2. Distorsionsverletzungen der Wirbelsäule sind für einen orthopädischen Sachverständigen – und für das Gericht – grundsätzlich auch dann objektivierbar, wenn eine Dokumentation durch bildgebende Verfahren nicht möglich ist. Erforderlich ist eine sorgfältige Untersuchung durch den medizinischen Sachverständigen, bei der insbesondere die Anamnese eine wesentliche Rolle spielen muss.
3. Interdisziplinäre Gutachten nach der Konzeption von M. und Ca. (vgl. die Darstellung in NZV 2008, 113 sowie M./Ca. u.a. in NZV 2013, 525 und NZV 2016, 263) sind aus methodischen Gründen bei Distorsionsverletzungen der Wirbelsäule in der Regel wenig geeignet, verlässliche Feststellungen zu Unfallverletzungen zu treffen.
4. Persistierende Beschwerden nach einer mittelgradigen Distorsion der Lendenwirbelsäule sind auch dann durch das Unfallgeschehen verursacht, wenn bei der Entwicklung der Beschwerden bestimmte unfallunabhängige Dispositionen des Geschädigten (hier: ein Hohlrundrücken und psychosomatische Faktoren) eine Rolle gespielt haben (vgl. BGH, NJW 1996, 2425).
5. Führt eine mittelgradige Distorsion der Lendenwirbelsäule nach einem Verkehrsunfalle zu dauerhaften Beschwerden im Sinne eines Schmerzsyndroms mit Auswirkungen auf die Lebensführung im beruflichen und im privaten Alltag, kann ein Schmerzensgeld von 10.000 EUR gerechtfertigt sie.
OLG Karlsruhe, Urt. v. 27.6.2022 – 9 U 125/19
Sachverhalt
[1] I. Der Kläger verlangt von den Beklagten Schadensersatz und Schmerzensgeld nach einem Verkehrsunfall.
[2] Am 18.5.2015 kam es im B. zu einem Verkehrsunfall, an welchem der Kläger als Fahrer eines Pkw Citroen und der Beklagte Ziff. 1 als Fahrer und Halter eines Pkw Skoda beteiligt waren. Die Beklagte Ziff. 2 ist die für das Fahrzeug des Beklagten Ziff. 1 zuständige Haftpflichtversicherung. Zu dem Unfall kam es, weil der Beklagte Ziff. 1 an der Einmündung der K.straße in die K. die Vorfahrt des bevorrechtigten Klägers missachtete. Beide Fahrzeuge wurden erheblich beschädigt; der Kläger erlitt Verletzungen, die im Einzelnen streitig sind.
[3] Der Kläger hat im Verfahren vor dem Landgericht von den Beklagten materiellen Schadensersatz und Schmerzensgeld gefordert. Er habe erhebliche Verletzungen an der Halswirbelsäule und in weiteren Bereichen der Wirbelsäule erlitten. Es sei ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 5.000,00 EUR angemessen. Durch den Unfall sei beim Kläger ein Dauerschaden entstanden. Er leide dauerhaft unter unfallursächlichen Schmerzen im Wirbelsäulenbereich mit erheblichen negativen Auswirkungen für ihn im Beruf und im Privatleben.
[4] Die Beklagte Ziff. 2 hat vorgerichtlich einen Teil der vom Kläger geltend gemachten materiellen Schäden ersetzt und auf das Schmerzensgeld einen Betrag in Höhe von 790,80 EUR gezahlt; weitere Schmerzensgeldzahlungen hat die Beklagte abgelehnt.
[5] Die Beklagten haben ihre volle Verantwortlichkeit für die dem Kläger aus dem Unfall entstandenen Schäden nicht in Frage gestellt. Sie haben Einwendungen zu den materiellen Positionen erhoben. Ein höheres Schmerzensgeld komme nicht in Betracht, da dem Kläger durch den Unfall kein Dauerschaden entstanden sei; soweit der Kläger längere Zeit nach dem Unfall unter bestimmten Beschwerden im Wirbelsäulenbereich leide, seien diese nicht durch den Unfall verursacht.
[6] Das Landgericht hat ein "Interdisziplinäres Gutachten" der Sachverständigen Ho. und Dr. W. eingeholt. Der technische Sachverständige Ho. hat eine Rekonstruktion des Unfalls durchgeführt und dabei die Einwirkungen auf das Fahrzeug des Klägers analysiert. Nach den Ausführungen des technischen Sachverständigen kam es zunächst zu einer Erstkollision zwischen den Fahrzeugen des Klägers und des Beklagten Ziff. 1 in einem Winkel von etwa 115 Grad. Anschließend prallte das Fahrzeug des Klägers gegen einen Baum und stieß schließlich in einer dritten Kollision gegen einen Zaun, der auf einer Länge von etwa 14 Meter beschädigt wurde. Der technische Sachverständige hat in seinem Gutachten Schlussfolgerungen gezogen im Hinblick auf bestimmte Geschwindigkeitsänderungen des klägerischen Fahrzeugs sowohl in Längsrichtung als auch in Querrichtung. Auf der Grundlage des technischen Gutachtens hat der Sachverständige Dr. W. nach einer Untersuchung des Klägers Feststellungen zu den körperlichen Beeinträchtigungen des Klägers und zur Unfallursächlichkeit getroffen. Er hat eine unfallbedingte Knieprellung festgestellt. Eine "strukturelle Verletzung der Hals- und Lendenwirbelsäule" des Klägers habe es nicht gegeben. Eine Verletzung der Halswirbelsäule könne aufgrund der einwirkenden Kräfte bei dem Unfall zwar "mit Wahrscheinlichkeit bejaht" werden. Einen unfallursächlichen Dauerschaden habe der Kläger jedoch nicht erlitten. Vom Kläger geschilderte aktuelle Beschwerden im Bereich der Lendenwirbelsäule könnten nicht...