StPO § 261; OWiG § 77
Leitsatz
1. Will der Tatrichter dienstliches Wissen, das er außerhalb der Hauptverhandlung erlangt hat, zum Gegenstand seiner Entscheidungsfindung machen, so muss er die Verfahrensbeteiligten in der Hauptverhandlung darauf hinweisen, dass sie der Entscheidung als gerichtskundig zugrunde gelegt werden könnten (Anschluss BGH NStZ 2016, 123).
2. Auf den Einzelfall bezogene Wahrnehmungen des erkennenden Richters aus einer früheren Hauptverhandlung über Tatsachen, die unmittelbar für Merkmale des äußeren oder inneren Tatbestandes erheblich oder mittelbar für die Überführung des Betroffenen von wesentlicher Bedeutung sind (hier: Äußerungen eines technischen Sachverständigen zur Plausibilität des Messwertes in einem Parallelverfahren), dürfen nicht als gerichtskundig behandelt werden (Anschluss BGHSt 45, 354).
BayObLG, Beschl. v. 16.5.2022 – 201 ObOWi 475/22
Sachverhalt
Mit Bußgeldbescheid wurde gegen den Betroffenen wegen einer fahrlässigen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 66 km/h eine Geldbuße in Höhe von 880 EUR sowie ein mit einer Anordnung nach § 25 Abs. 2a StVG versehenes Fahrverbot für die Dauer von zwei Monaten festgesetzt. Nach Einspruch verurteilte ihn das AG zu einer Geldbuße von 240 EUR und verhängte ein mit einer Anordnung nach § 25 Abs. 2a StVG versehenes Fahrverbot für die Dauer von einem Monat mit der Begründung, aufgrund gerichtsbekannter Erkenntnisse aus einem Parallelverfahren bedürfe es eines höheren Toleranzabzugs. Mit seiner Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Die Staatsanwaltschaft wendet sich mit ihrer Rechtsbeschwerde gegen die Verwertung von Erkenntnissen aus dem Parallelverfahren als gerichtsbekannt und rügt die Beweiswürdigung als lückenhaft. Das BayObLG hat auf die Rechtsbeschwerden der Staatsanwaltschaft und des Betroffenen das Urteil des AG aufgehoben, ausgenommen die Feststellungen zur Fahrereigenschaft des Betroffenen. Im Umfang der Aufhebung hat es die Sache zurückverwiesen.
2 Aus den Gründen:
[…] II. Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft:
Die gemäß § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 OWiG statthafte und im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft ist begründet. Die zulässige Verfahrensrüge der Verletzung des § 261 StPO, § 71 Abs. 1 OWiG, mit der die Einführung von Sachverständigenäußerungen aus einem Parallelverfahren beanstandet wird, hat Erfolg. Auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts kommt es deshalb nicht an.
Die Beweiswürdigung darf nur auf die Erkenntnisse der Hauptverhandlung gestützt werden, in der über den Einspruch des jeweiligen Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid entschieden wird. Der Inhalt anderer Hauptverhandlungen, auch solcher gegen andere Betroffene, gehört nicht zum Inbegriff der Hauptverhandlung im Sinne von § 261 StPO (vgl. nur LR/Sander StPO 26. Aufl. § 261 Rn 17). Der Tatrichter darf seiner Entscheidung über die Schuld- und Rechtsfolgenfrage nur die Erkenntnisse zugrunde legen, die er in der Hauptverhandlung nach den Regeln des Strengbeweises gewonnen hat. Unbeschadet der Möglichkeit eines Vorhalts darf der erkennende Richter dienstliches Wissen, das er außerhalb der Hauptverhandlung erlangt hat, als solches grundsätzlich nicht ohne förmliche Beweiserhebung zum Nachteil des Betroffenen verwerten, so etwa auch Äußerungen eines Sachverständigen in einem anderen Verfahren (vgl. BGHSt 19, 193, 195; 45, 354, 357; BGH NStZ 2013, 357; LR/Sander a.a.O. Rn 19).
Eine Ausnahme kann zwar für gerichtskundige Tatsachen gelten, wenn in der Hauptverhandlung darauf hingewiesen wurde, dass sie der Entscheidung als offenkundig zugrunde gelegt werden könnten. Gerichtskundig sind solche Tatsachen, die ein Richter in seiner amtlichen Eigenschaft, wenn auch nicht notwendig aufgrund eigener Amtshandlung, zuverlässig in Erfahrung gebracht hat (BGHSt 6, 292). Vorgänge, die sich in einem anderen Verfahren ereignet haben, können grundsätzlich gerichtskundig sein (LR/Becker StPO 27. Aufl. § 244 Rn 209). Allerdings ist die Annahme der Gerichtskundigkeit nach einhelliger Meinung nur eingeschränkt zulässig, weil mit der Behandlung einer Tatsache als gerichtskundig sowohl der Unmittelbarkeitsgrundsatz des § 250 StPO durchbrochen als auch der Grundsatz des § 261 StPO eingeschränkt wird, wonach der Tatrichter seine Überzeugung nur auf den – in zulässiger Weise – zum Inbegriff der Hauptverhandlung gemachten Verfahrensstoff stützen darf (LR/Becker a.a.O. m.w.N.). Auf den Einzelfall bezogene Wahrnehmungen über Tatsachen, die unmittelbar für Merkmale des äußeren und inneren Tatbestandes erheblich oder mittelbar für die Überführung des Betroffenen von wesentlicher Bedeutung sind, dürfen daher nicht als gerichtskundig behandelt werden (vgl. BGH NStZ 2016, 123; BGHSt 45, 354, 358 f.; 47, 270, 274; BGH NStZ-RR 2007, 116, 117).
So verhält es sich hier. Auch wenn die mitgeteilten Angaben des sachverständigen Zeugen und Privatgutachters, welcher nach den Urteilsfeststellungen im Parallelverfahren als Sachvers...