GG Art. 20 Abs. 3; VwGO § 124a Abs. 3 S. 4; StVG § 3 Abs. 4 § 6 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. y (a.F.) § 29 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Buchst. a und Nr. 3 Buchst. a, Abs. 4 Nr. 1, Abs. 5 S. 1, Abs. 7 S. 3; FeV § 3 § 11 Abs. 2, Abs. 8 § 13 S. 1 Nr. 2 Buchst. b; Anlage 4 zur FeV Nr. 8.1; StGB § 69 § 316
Leitsatz
§ 3 der Fahrerlaubnis-Verordnung regelt die Anforderungen an die Eignung zum Führen von fahrerlaubnisfreien Fahrzeugen nicht hinreichend bestimmt und kann daher als Rechtsgrundlage für behördliche Untersagungen nicht herangezogen werden.
BayVGH, Urt. v. 17.4.2023 – 11 BV 22.1234, rechtskräftig
1 Sachverhalt
Der Kläger wendet sich gegen die Untersagung des Führens fahrerlaubnisfreier Kraftfahrzeuge.
2 Aus den Gründen:
[16] Die Berufung des Kl. ist zulässig und begründet.
[17] Der Bescheid vom 4.10.2021, mit dem ihm der Bekl. das Führen fahrerlaubnisfreier Kraftfahrzeuge im öffentlichen Straßenverkehr untersagt hat, ist rechtswidrig und verletzt den Kl. in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO), da die Rechtsgrundlage des § 3 FeV v. 13.12.2010 (BGBl I S. 1980), zuletzt geändert durch Gesetz v. 2.3.2023 (BGBl I Nr. 56), auf die sich die Untersagung stützt, nicht dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht. Das Urt. des VG [VG Augsburg v. 21.2.2022 – Au 7 K 21.2287] und der angefochtene Bescheid sind daher aufzuheben.
[18] 1. Die Berufungsbegründung im Schriftsatz vom 6.5.2022 genügt noch den Anforderungen des § 124a Abs. 3 S. 4 VwGO. Hiernach muss die Begründung substanziiert und konkret auf den einzelnen Fall bezogen sein und in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht im Einzelnen anführen, weshalb das angefochtene Urt. nach Auffassung des Berufungsführers unrichtig ist und geändert werden muss, wobei sie sich jedoch nicht im Detail mit dem Gedankengang des angefochtenen Urteils auseinandersetzen muss (BVerwG, Beschl. v. 9.7.2019 – 9 B 29.18 – NVwZ-RR 2019, 924 Rn. 3; Rudisile in Schoch/Schneider, VwGO, Stand August 2022, § 124a Rn. 53; Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124a Rn. 27). Rechtlich zutreffend oder schlüssig braucht die Begründung nicht zu sein (Happ, a.a.O.). Sie kann kurz und präzise ausfallen und sich auf die wesentlichen Gesichtspunkte beschränken. Ferner muss sie geeignet sein, das gesamte Urteil in Frage zu stellen (Rudisile, a.a.O. Rn. 54 f.).
[19] Soweit der Kl. wiederholt seine Rechtsauffassung zu § 3 Abs. 4 StVG dargelegt, ohne auch nur ansatzweise auf die auf Seite 26 ff. des Urteils ausgeführten Gründe einzugehen, und lediglich die vom VG dargestellte Gegenmeinung zur Verfassungsmäßigkeit des § 6 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. y StVG a.F. übernimmt, ist die Kritik des Bekl., es fehle an einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Urteilsgründen, berechtigt. Soweit er aber aus der nur punktuellen Regelung der Untersagung, fahrerlaubnisfreie Fahrzeuge zu führen, einen Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot ableitet und dem VG in diesem Zusammenhang vorwirft, nicht geprüft zu haben, ob die undifferenzierte Verweisung in § 3 FeV verhältnismäßig sei, ist die Begründung noch als ausreichend zu erachten, auch wenn die Kritik, das VG habe die Prüfung unterlassen, der Sache nach nicht berechtigt ist. Es genügt, wenn sich der Rechtsmittelführer mit einem einzelnen, den ganzen Streitgegenstand betreffenden Streitpunkt, hier mit der Vereinbarkeit der Rechtsgrundlage mit höherrangigem Recht, befasst und diesen Punkt in ausreichendem Maße behandelt. Zu allen für ihn nachteilig beurteilten Punkten braucht er nicht Stellung zu nehmen (Happ, a.a.O.).
[20] 2. Das Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg. Der Senat teilt die Auffassung des Kl., dass § 3 Abs. 1 S. 1 FeV als Rechtsgrundlage für die streitgegenständliche Untersagung des Führens von fahrerlaubnisfreien Kraftfahrzeugen nicht mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar und damit unwirksam (vgl. Grzeszick in Dürig/Herzog/ Scholz, GG, Stand September 2022, Art. 20 Rn. 143) ist, weil sie weder hinreichend bestimmt noch verhältnismäßig ist.
[21] Damit kann dahinstehen, ob § 6 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a und y StVG a.F. als gesetzliche Ermächtigungsgrundlage zur Regelung des Führens fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge durch Rechtsverordnung seinerseits dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot genügt. Auf die seit 28.7.2021 geltenden Bestimmungen in § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Buchst. b und d, Abs. 3 Nr. 1 StVG kommt es insoweit nicht an, da für die Beurteilung der Vereinbarkeit einer Norm mit höherrangigem Recht auf den Zeitpunkt ihres Erlasses abzustellen ist und der Wegfall oder die Änderung der dem Erlass einer Rechtsverordnung zugrundeliegenden Ermächtigungsnorm jene grundsätzlich unberührt lässt (vgl. BVerwG, Urt. v. 3.12.2020 – 4 C 6.18 – NVwZ 2021, 1624 Rn. 47, 50; Urt. v. 24.6.2015 – 9 C 23.14 – NVwZ-RR 2016, 68 = juris Rn. 10; Urt. v. 6.10.1989 – 4 C 11.86 – NJW 1990, 849 = juris Rn. 10; BVerfG, Beschl. v. 10.5.1988 – 2 BvR 482/84 u.a. – BVerfGE 78, 179; Remmert in Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 80 Rn. 51; Brenner in von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 80 Rn. 80).