[…] II.1. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig, insbesondere fristgemäß begründet worden. Die verspätet eingegangene Begründung des Rechtsmittels steht dem nicht entgegen, weil das Amtsgericht – wenn auch für die Entscheidung nicht zuständig (vgl. §§ 46 Abs. 1 OWiG, 46 Abs. 1 StPO) – dem Betroffenen auf seinen Antrag wegen der Fristversäumung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt hat.
2. Die Rechtsbeschwerde hat mit der Verfahrensrüge Erfolg, so dass es auf die Sachrüge nicht mehr ankommt.
a) Die Verfahrensrüge ist zulässig erhoben. Denn der Verteidiger hat vorgetragen, dass sich der Betroffene entgegen den Urteilsfeststellungen nicht zur Fahrereigenschaft und anderen Tatumständen geäußert hat. Die den Gründen zu entnehmende Sacheinlassung stammt vom Verteidiger; der Betroffene hat geschwiegen.
b) Die Verfahrensrüge ist auch begründet, weil ausweislich des Protokolls über die Hauptverhandlung am 23.8.2022 eine Sacheinlassung des Betroffenen nicht festzustellen ist und das Amtsgericht nach den Urteilsgründen die Erklärung des Verteidigers fehlerhaft als Einlassung des Betroffenen zur Sache gewertet und seiner Überzeugungsbildung zugrunde gelegt hat.
aa) Eine Äußerung eines Betroffenen zur Sache ist eine wesentliche Förmlichkeit i.S.v. §§ 71 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 273 Abs. 1 StPO und daher protokollierungspflichtig. Von einer solchen Pflicht sieht das Ordnungswidrigkeitengesetz im Rahmen der Normen zur Verfahrensvereinfachung insbesondere nach § 78 OWiG auch nicht ab.
Ausweislich des Protokolls hat sich der Betroffene nach Belehrung "zunächst" nicht eingelassen und dies auch nicht im Laufe der weiteren Hauptverhandlung getan. Der Betroffene hat sich demnach nicht selbst zur Sache geäußert, sondern von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht.
bb) Dem Protokoll ist aber zu entnehmen, dass der Verteidiger eine Erklärung abgegeben hat, deren Inhalt auch protokolliert wurde. Danach habe er die Fahrereigenschaft eingeräumt, so schnell wie vorgeworfen sei er nicht gefahren, sein Tacho sei kaputt gewesen, auch habe er geglaubt, dass die zulässige Höchstgeschwindigkeit 50 km/h und nicht nur 30 km/h gewesen sei. Er stelle das Messergebnis nicht in Frage.
Eine solche Erklärung zur Sache kann dem Betroffenen als eigene Erklärung zugerechnet werden. Insoweit ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (vgl. BGH, Urt. v. 11.3.2020 – 2 StR 69/19 – juris) wie folgt zu differenzieren:
(1) Äußert sich der Verteidiger in Form eines Schriftsatzes zur Sache, handelt es sich grundsätzlich um eine Prozesserklärung des Verteidigers, die dieser aus eigenem Recht und in eigenem Namen abgibt, und nicht um eine Sacheinlassung des Angeklagten. Ihrer Bedeutung nach ist sie einem Parteivorbringen im Zivilprozess vergleichbar (Dencker, FS für Fezer, 2008, S. 115, 121). Eine solche Erklärung kann daher in der Hauptverhandlung nicht als Urkunde verlesen werden (KG, Urt. v. 6.4.1994 – 2 StR 76/94, NStZ 1994, 449; OLG Celle, Urt. v. 31.5.1988 – 1 Ss 117/88, NStZ 1988, 426; OLG Hamm, Urt. v. 27.3.1979 – 4 Ss 2376/78, JR 1980, 82). Der Angeklagte kann sie sich in der Hauptverhandlung auch nicht – rückwirkend – zu eigen machen (vgl. BGH, Beschl. v. 20.9.2007 – 1 StR 385/07, NStZ-RR 2008, 21, 22 zu rechtlichen Erwägungen). Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn der Verteidiger in der Erklärung Äußerungen schriftlich fixiert, die der Angeklagte ihm gegenüber gemacht hat (BGH, Urt. v. 24.8-1993 – 1 StR 380/93, NJW 1993, 3337; Beschl. v. 13.12.2001 – 4 StR 506/01, NStZ 2002, 556).
Gleiches gilt grundsätzlich für Erklärungen, die der Verteidiger in der Hauptverhandlung zur Sache abgibt. Da der Verteidiger Beistand und nicht Vertreter des Angeklagten ist (st. Rspr. seit RGSt 66, 209, 211), handelt es sich insoweit – genauso wie bei allgemeinen Äußerungen, prozessualen Erklärungen oder Tatsachenbehauptungen in Beweisanträgen (vgl. BGH, Beschl. v. 29.5.1990 – 4 StR 118/90, NStZ 1990, 447; Beschl. v. 22.3.1994 – 1 StR 100/94, NStZ 1994, 352; Beschl. v. 12.4.2000 – 1 StR 623/99, NStZ 2000, 495, 496; Beschl. v. 7.8.2014 – 3 StR 105/14, NStZ 2015, 207, 208) – um seine eigenen Prozesserklärungen.
(2) Schriftliche und mündliche Erklärungen des Verteidigers können ausnahmsweise als Einlassung des Angeklagten entgegengenommen und verwertet werden, wenn ein gesetzlich vorgesehener Fall der Vertretung vorliegt (§§ 234, 329, 350, 387, 411 StPO) oder wenn der Angeklagte ausdrücklich erklärt, sie als eigene gelten zu lassen (BGH, Beschl. v. 28.6.2005 – 3 StR 176/05, NStZ 2005, 703). Bei Verteidigerschriftsätzen muss – etwa durch Unterschrift oder durch Formulierung in Ich-Form – erkennbar sein, dass der Angeklagte die Erklärung als eigene Äußerung verstanden wissen will und sich seines Verteidigers gleichsam als "Schreibhilfe" bedient (vgl. Schlothauer in Widmaier/Müller/Schlothauer, Münchner Handbuch Strafverteidigung, 2. Aufl., § 3 Rn 118). Bei in der Hauptverhandlung verlesenen schriftlichen Ausführungen des Verteidigers, in denen er Angaben des schweigenden Angeklag...