ZPO § 286
Leitsatz
Zur Feststellung einer bestimmten Geschwindigkeit eines Kraftfahrzeugs im Querverkehr ist der Zeugenbeweis jedenfalls dann ein ungeeignetes Beweismittel, wenn nicht die besondere Sachkunde des Zeugen dargelegt wird oder Bezugstatsachen erläutert werden.
KG, Beschl. v. 22.9.2010 – 12 U 203/09
Sachverhalt
Bei der Haftungsabwägung im Zusammenhang mit einem Kreuzungszusammenstoß kam es darauf an, ob der Fahrer des auf der bevorrechtigten Straße fahrenden Fahrzeuges eine Geschwindigkeitsbegrenzung eingehalten hatte. Einzelne der vernommenen Augenzeugen gaben an, dass die Geschwindigkeit überhöht gewesen sei und legten sich auf Geschwindigkeiten von 50–60 km/h fest. Das LG berücksichtigte diese Aussagen nicht.
2 Aus den Gründen:
„Aussagen von Zeugen sind grds. nicht geeignet, eine bestimmte Geschwindigkeit eines Fahrzeuges nachzuweisen. Dies gilt erst recht, wenn es sich um ungeschulte Zeugen handelt. Es ist nach der Erfahrung der Verkehrssenate für nicht besonders darin geübte Personen ausgeschlossen, die Geschwindigkeit eines anderen Fahrzeuges ohne weitere Orientierung auch nur annähernd verlässlich zu schätzen. Für den Beweis einer bestimmten Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit ist der Zeugenbeweis deshalb ein ungeeignetes Beweismittel, wenn nicht die besondere Sachkunde des Zeugen dargelegt oder Bezugstatsachen erläutert werden (vgl. KG VRS 113, 28 – SP 2007, 315 – NZV 2007, 524 = KGR 2007, 814 L). Dies gilt insb. auch für Geschwindigkeitsschätzungen des Querverkehrs (vgl. hierzu auch Hentschel/König/Dauer, Straßenverkerkehrsrecht, 40. Aufl., § 3 StVO Rn 63).
Da weder vorgebracht, noch ersichtlich ist, weshalb die Zeugen zu verlässlichen Schätzungen in der Lage gewesen sein sollten, war es nicht rechtsfehlerhaft, wenn das LG die Aussagen der Zeugen für die Frage, ob der Bekl. zu 2) mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren ist, bei der Beweiswürdigung nicht berücksichtigt hat.“
Mitgeteilt von VRiKG Adalbert Grieß, Berlin
3 Anmerkung:
Zeit- und Geschwindigkeitsangaben in Verkehrsunfallsachen sind sowohl im Zivil- wie auch im Strafrecht für die Klärung von Verantwortlichkeiten, wie Verursachung, Verschulden und Mitverschulden, maßgeblich. Ist eine Klärung durch Sachverständige wegen fehlender Anknüpfungstatsachen nicht möglich, kommen häufig nur dafür benannte Zeugen als Beweismittel in Betracht. Dass den Angaben von Zeugen hinsichtlich Zeit- und Geschwindigkeitsschätzungen nicht zu trauen ist, hat Streck in einer Untersuchungsreihe von etwa 25 Schätzfahrten mit ca. 600 Versuchszeugen festgestellt (vgl. Streck, 14. VGT, S. 189 ff.). Der Prozentsatz der richtigen Schätzungen lag zwischen 5 % und 20 %, sodass er zu dem Ergebnis gelangte, dass Zeugenaussagen über Geschwindigkeiten und Zeiträume "mehr oder weniger unzulänglich" seien (Streck, a.a.O. S. 193).
Diese Einschätzung, die auf fehlende ausreichende Wahrnehmungsfähigkeit, Erinnerungsvermögen und Wiedergabefähigkeit zurückzuführen ist (vgl. hierzu Streck, a.a.O, S. 189, 191 ff.; E. Schneider, MDR 1975, 15 f. m.w.N.), wird auch bei der gerichtlichen Würdigung von Zeugenaussagen über beobachtete und geschätzte Geschwindigkeiten durch Zeugen geteilt. Schätzungen Ungeschulter werden ohne Einbeziehung ausreichender Bezugstatsachen als unverwertbar angesehen (vgl. KG NZV 2008, 626; OLG Karlsruhe NZV 2008, 586; vgl. auch OLG Hamm VRS 58, 380; zustimmend Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., § 3 StVO Rn 63). Von Sonderfällen abgesehen werden Geschwindigkeitsschätzungen als vielfach völlig wertlos angesehen, da es hier zu einer Verbindung von grds. unzuverlässigen Zeit- und Raumschätzungen kommt (vgl. Geipel, Handbuch der Beweiswürdigung, S. 370; E. Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, Rn 936; Bürkle, Richterliche Alltagstheorien im Bereich des Zivilrechts, S. 103 ff.).
Diese Beurteilung der Wertlosigkeit von Geschwindigkeitsschätzungen gilt nicht für Polizeibeamte, die in Abgleichung mit objektiven Hilfsmitteln die Einschätzung von Geschwindigkeiten "erlernt" haben (vgl. BayOLG DAR 2001, 37; OLG Karlsruhe NZV 2008, 588). Angaben von Zeugen zur Überschreitung von angeordneten Schrittgeschwindigkeiten sollen gleichfalls verwertbar sein, da hier keine die Wahrnehmungsfähigkeit des Zeugen übersteigende Anforderungen gestellt werden (vgl. BayOLG DAR 2001, 37; Hentschel/König/Dauer, a.a.O, § 3 StVO Rn 63). Die fehlende Verwertbarkeit von Aussagen von Zeugen im mittleren Geschwindigkeitsbereich von 50–70 km/h oder von über 100 km/h mit bekundeten Überschreitungen der vorgeschriebenen Geschwindigkeiten um 10–20 % wird in der Praxis allgemein angenommen (vgl. BayOLG VRS 65, 461M; BayOLG DAR 2005, 347; eingehend Hentschel/König/Dauer, a.a.O.).
Ob damit ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Zeugen über die Überschreitung einer Geschwindigkeit im oben umschriebenen "Unverwertbarkeitsbereich" als ungeeignetes Beweismittel zurückzuweisen ist, hängt davon ab, ob bei entsprechender Anwendung des § 244 Abs. 3 StPO die völlige Ungeeignetheit dieses Beweismittels feststeht. Die ZPO enthält keine...