BGB § 823 Abs. 2; StGB § 323c
Leitsatz
§ 323c StGB ist ein Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB.
BGH, Urt. v. 14.5.2013 – VI ZR 255/11
Sachverhalt
Der klagende Gerichtsvollzieher macht gegenüber der Alleinerbin des im Verlauf des Revisionsverfahrens verstorbenen früheren Bekl. einen Anspruch auf Schmerzensgeld und Ersatz vorgerichtlicher Anwaltskosten wegen einer Schussverletzung geltend, die ihn der Sohn des Bekl. während einer vom früheren Bekl. beauftragten Räumung einer Wohnung zugefügt hat. Der Sohn des früheren Bekl. stand zeitweilig unter Betreuung. Er hatte eine krankhafte Persönlichkeitsstörung entwickelt, die dazu geführt hatte, dass er Gegenstände sammelte, die die gesamte von ihm und seinem Vater bewohnte Immobilie vollgestellt hatten. Der frühere Bekl. erwirkte gegen seinen Sohn einen Räumungstitel und beauftragte den Kl. mit der Räumung. Nachdem der Kl. einen Teil der Räumung vorgenommen hatte, klingelte er an der Haustür, die ihm der frühere Bekl. öffnete. Der hinter ihm stehende Räumungsschuldner stieß seinen Vater beiseite und schoss auf den Oberkörper des Kl. mit einer halbautomatischen Pistole, die er am Morgen vor dem Eintreffen des Kl. seinem Vater gezeigt hatte. Der Kl. wurde dabei schwer verletzt.
Der Kl. hat den früheren Bekl. für die Tat mitverantwortlich gehalten und auf Zahlung von Schmerzensgeld (mindestens 20.000 EUR) und den Ersatz vorgerichtlicher Anwaltskosten in Anspruch genommen. Das LG hat die Klage abgewiesen. Das BG hat unter Abänderung des erstinstanzlichen Urt. den Bekl. mit seinem Sohn zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 10.000 EUR und vorgerichtlicher Kosten verurteilt. Die Revision des Bekl. blieb erfolglos.
2 Aus den Gründen:
[5] "… Das Berufungsurteil hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand. Das BG hat mit Recht eine Haftung des Bekl. aus §§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 323c StGB wegen unterlassener Hilfeleistung bejaht."
[6] 1. Das BG ist zutreffend davon ausgegangen, dass § 323c StGB Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB ist.
[7] a) Schutzgesetz i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB ist eine Rechtsnorm, die nach Zweck und Inhalt zumindest auch dazu dienen soll, den Einzelnen oder einzelne Personenkreise gegen die Verletzung eines bestimmten Rechtsguts zu schützen. Dafür kommt es nicht auf die Wirkung, sondern auf Inhalt und Zweck des Gesetzes sowie darauf an, ob der Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes gerade einen Rechtsschutz, wie er wegen der behaupteten Verletzung in Anspruch genommen wird, zugunsten von Einzelpersonen oder bestimmten Personenkreisen gewollt oder doch mit gewollt hat. Es genügt, dass die Norm auch das in Frage stehende Interesse des Einzelnen schützen soll, mag sie auch in erster Linie das Interesse der Allgemeinheit im Auge haben. Andererseits soll der Anwendungsbereich von Schutzgesetzen nicht ausufern. Deshalb reicht es nicht aus, dass der Individualschutz durch Befolgung der Norm als ihr Reflex objektiv erreicht werden kann; er muss vielmehr im Aufgabenbereich der Norm liegen (vgl. Senatsurt. v. 16.3.2004 – VI ZR 105/03, VersR 2004, 1012; v. 3.2.1987 – VI ZR 32/86, BGHZ 100, 13, 14 f.; v. 2.2.1988 – VI ZR 133/87, BGHZ 103, 197, 199 und v. 18.11.2003 – VI ZR 385/02, VersR 2004, 255, jeweils m.w.N.). Bei diesem Verständnis bezweckt § 323c StGB zumindest auch den Schutz der Individualrechtsgüter des durch einen Unglücksfall Betroffenen (so zutreffend OLG Düsseldorf NJW 2004, 3640, 3641; OLG Hamm VersR 2005, 1689; Fischer, StGB, 59. Aufl., § 323c Rn 1; vgl. auch BGH, Beschl. v. 22.1.2002 – 4 StR 392/01, NJW 2002, 1356; a.A. OLG Frankfurt NJW-RR 1989, 794; differenzierend BGB-RGRK/Steffen, 12. Aufl., § 823 Rn 136 und 546 zu § 330c StGB).
[8] b) Aus den Gesetzesmaterialien lässt sich nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass das Gesetz allein dem Interesse der Allgemeinheit an dem Schutz eines funktionierenden und auf Solidarität beruhenden Gemeinwesens dienen soll. Zwar wird in der amtlichen Begründung zum Gesetzesentwurf der Gedanke der sozialen Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft herausgestellt, als Strafgrund wird jedoch auch die “Versäumung einer wirklichen Chance zu erfolgreicher Schadensabwendung‘ angeführt (Verhandlungen des Deutschen Bundestags, 1. Wahlperiode 1949, BT-Drucks 3713 (1952), S. 44, Spalte 1). Damit ist jedenfalls auch das Ziel der Strafvorschrift erkennbar, individuelle Rechtsgüter des in Not Geratenen zu schützen und eine unterlassene Hilfeleistung in den Fällen strafrechtlich zu sanktionieren, in denen sie erforderlich und den Umständen nach zuzumuten war. Unter diesen Umständen steht die Verpflichtung zur Solidarität zwar im Allgemeininteresse, sie zielt jedoch im Einzelfall auch darauf ab, Schäden von Individualrechtsgütern, die in Gefahr geraten sind, abzuwenden.
[9] c) Soweit die Gegenmeinung darauf abstellt, dass der untätig Bleibende in den Haftungsfolgen nicht einem aktiv handelnden Täter gleichgestellt werden dürfe (vgl. etwa Bamberger/Roth/Spindler, BGB, 3. Aufl., § 823 Rn 178; OLG Frankfurt NJW-RR 1989, 794, 795; Dütz, NJW 1970, 1822, 1824 f.), wird dem Umstand n...