ZPO § 91 Abs. 1 S. 1; VV RVG Nrn. 1008 3100 3101
Leitsatz
1. Die der beklagten Partei durch die Einreichung einer Anwaltsbestellung nach Klagerücknahme entstandenen Kosten sind erstattungsfähig i.S.d. § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO, wenn sie sich bei der Einreichung in nicht vorwerfbarer Unkenntnis von der Rücknahme der Klage befunden hat (im Anschluss an BGH, Beschl. v. 7.2.2018 – XII ZB 112/17, zfs 2018, 344 m. Anm. Hansens = RVGreport 2018, 179 [Hansens]; Beschl. v. 18.12.2018 – VI ZB 2/18, AGS 2019, 198).
2. Vertritt der Rechtsanwalt in derselben Angelegenheit mehrere Personen und berechnet sich seine Vergütung nach Wertgebühren, erfolgt die Deckelung der Erhöhung durch eine Begrenzung auf einen Gebührensatz von 2,0; dass die Erhöhung das Doppelte der Ausgangsgebühr übersteigt, ist unschädlich.
BGH, Beschl. v. 23.5.2019 – V ZB 196/17
Sachverhalt
Die Parteien des vor dem AG Backnang geführten Rechtsstreits bilden eine Wohnungseigentümergemeinschaft. Am 3.6.2016 reichte der Kl. bei dem AG eine Beschlussanfechtungsklage gegen die übrigen – insgesamt mehr als sieben – Wohnungseigentümer ein. Mit dem am 8.7.2016 bei dem AG eingegangenen Schriftsatz hat der Kl. die Klage wieder zurückgenommen. Dem Verwalter der Wohnungseigentümergemeinschaft war die Klage nebst Terminsverfügung am 9.7.2016 zugestellt worden. Mit Schriftsatz vom 11.7.2016, eingegangen beim AG Backnang am 13.7.2016, bestellte sich für die Bekl. deren Prozessbevollmächtigte. Am 14.7.2016 wurde dem Verwalter der Klagerücknahmeschriftsatz zugestellt. Das AG Backnang erlegte durch Beschl. v. 2.8.2016 die Kosten des Rechtsstreits dem Kl. auf.
Im Kostenfestsetzungsverfahren haben die Bekl. eine 0,8 Verfahrensgebühr nach Nrn. 3100, 3101 Nr. 1 VV RVG und eine 2,0 "Erhöhungsgebühr" nach Nr. 1008 VV RVG geltend gemacht. Der Rechtspfleger des AG Backnang hat dem Kostenfestsetzungsantrag entsprochen. Das LG Stuttgart hat die hiergegen vom Kl. eingelegte sofortige Beschwerde zurückgewiesen. Dies hat das LG damit begründet, die Erstattungsfähigkeit beurteile sich entgegen der Auffassung des III. ZS des BGH (zfs 2016, 285 mit Anm. Hansens = RVGreport 2016, 186 [Hansens] = AGS 2016, 252) nicht rein objektiv. Vielmehr sei auf den Standpunkt einer verständigen und wirtschaftlich vernünftigen Partei zum Zeitpunkt der Vornahme der kostenverursachenden Handlung abzustellen. Da zu diesem Zeitpunkt die Bekl. von der Klagerücknahme keine Kenntnis gehabt hätten, sei die Anwaltsbestellung notwendig.
Der BGH hat die Rechtsbeschwerde des Kl., die sich gegen die Erstattungsfähigkeit der Verfahrensgebühr und die Berechnung der Gebührenerhöhung gerichtet hat, zurückgewiesen.
2 Aus den Gründen:
"III. [4] … Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde (§ 574 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, § 575 ZPO) ist nicht begründet. Das Beschwerdegericht bejaht die Erstattungsfähigkeit der dem Bekl. zuerkannten 0,8 Verfahrensgebühr nach Nr. 3100, 3101 VV RVG sowie der 2,0 Erhöhungsgebühr nach Nr. 1008 VV RVG zu Recht."
[5] 1. Die seitens der Prozessbevollmächtigten der Bekl. erbrachte anwaltliche Tätigkeit war trotz der zuvor erfolgten Klagerücknahme notwendig i.S.d. § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO.
[6] a) Nach der Rechtsprechung des XII. und des VI. Zivilsenats des BGH (Beschl. v. 7.2.2018 – XII ZB 112/17, zfs 2018, 344 m. Anm. Hansens = RVGreport 2018, 179 [Hansens] Rn 24; siehe auch bereits Beschl. v. 25.1.2017 – XII ZB 447/16, RVGreport 2017, 143 [Ders.] = AGS 2017, 248 zu § 80 FamFG; Beschl. v. 10.4.2018 – VI ZB 70/16, zfs 2018, 461 m. Anm. Hansens = RVGreport 2018, 461 [Ders.] Rn 10), die der Senat für überzeugend hält, ist Maßstab für die Notwendigkeit von Kosten zur Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung i.S.d. § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO, ob eine verständige und wirtschaftlich vernünftig denkende Partei die Kosten auslösende Maßnahme im damaligen Zeitpunkt als sachdienlich ansehen durfte. Abzustellen ist mithin auf die Sicht der Partei in der konkreten prozessualen Situation und dann zu beurteilen, ob ein objektiver Betrachter aus diesem Blickwinkel die Sachdienlichkeit bejahen würde. Die Notwendigkeit bestimmt sich daher aus der "verobjektivierten" ex ante-Sicht der jeweiligen Prozesspartei und nicht nach einem rein objektiven Maßstab (BGH, Beschl. v. 7.2.2018 – XII ZB 112/17, zfs 2018, 344 m. Anm. Hansens = RVGreport 2018, 179 [Ders.]). Deshalb sind Kosten, die der Rechtsmittelgegner in nicht vorwerfbarer Unkenntnis von der Rücknahme des Rechtsmittels verursacht hat und als sachdienlich ansehen durfte, notwendig i.S.d. § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO (BGH, Beschl. v. 7.2.2018 – XII ZB 112/17, a.a.O.; Beschl. v. 10.4.2018 – VI ZB 70/16, a.a.O.).
[7] Aus der Rechtsprechung des III. Zivilsenats des BGH ergibt sich nichts anderes. Dieser hat nämlich auf eine entsprechende Anfrage des XII. Zivilsenats mitgeteilt, in der – von dem Beschwerdegericht als Anlass für die Zulassung der Rechtsbeschwerde genommenen – Entscheidung vom 25.2.2016 (III ZB 66/15, BGHZ 209, 120 = zfs 2016, 285 m. Anm. Hansens = RVGreport 2016,186 [Ders.]) nicht auf einen rein objektiven Maßstab ...