Das einzig Positive an dieser Entscheidungskette ist sicherlich, dass sich das LG zutreffend der Bewertung des Verhaltens des AG hinsichtlich der Behandlung des Entbindungsantrags entzieht. Ansonsten ist das Verhalten beider Gerichte bedenklich, gerade wenn man aus den Verweisen des AG und des LG auf eine offenbar ständige Rechtsprechung des LG zu dieser Problematik den Schluss ziehen muss, dass diese Praxis eine lokale consuetudo ist, was es noch schlimmer macht.
Die Grundproblematik des Wiedereinsetzungsverfahrens ist natürlich, dass der Betroffene sich nicht ohne Rückfrage beim Gericht – immerhin ist er gegen PZU mit entsprechenden Hinweisen auf die Rechtsfolgen bei unentschuldigtem Ausbleiben geladen worden – seiner Anwesenheitspflicht nach § 73 OWiG entziehen darf, wenn er vom Verteidiger lediglich mitgeteilt bekommt, dieser habe einen Antrag gestellt und er müsse deshalb nicht erscheinen. Dies ist so von den Landgerichten vor allem für Terminsverlegungsanträge und dies zu Recht entschieden worden (LG Hamburg, Beschl. v. 8.5.2015 – 603 Qs 125/15 – jurisPR-VerkR 21/2015 Anm. 5; LG Dresden, Beschl. v. 25.2.2010 – 5 Qs 159/09; s.a. KG jurisPR-VerkR 2/2013 Anm. 6). Etwas anderes muss jedoch für den Entbindungsantrag gelten. Denn für diesen hat das Tatgericht keinen Ermessensspielraum, wenn – wie hier – dessen Voraussetzungen vorliegen (insofern teilweise unzutreffend LG Berlin, Beschl. v. 12.5.2011 – 506 Qs 55/11, jurisPR-VerkR 3/2012 Anm. 6: der Entbindungsantrag kann auch von der erscheinenden Verteidigerin noch im Termin gestellt werden, selbst wenn der Verlegung nicht stattgegeben wird).
Der Betroffene darf sich also darauf verlassen, dass das Gericht einen rechtzeitig eingegangenen Entbindungsantrag nach seiner gesetzlichen Pflicht verbescheidet und er auch ohne Nachfrage nicht zum Termin erscheinen muss. Die insoweit gegenteilig ergangene Rechtsprechung und anders lautende Kommentierung verkennt, dass der Antrag auch noch im Termin gestellt werden kann. Insofern liegt auch – anders als das AG dies in seiner verwerfenden Wiedereinsetzungsentscheidung suggeriert – weder ein verspäteter Antrag noch ein Verschulden des Betroffenen vor.
Die weitere Problematik ist der Umgang des AG mit dem Entbindungsantrag, worüber das OLG noch zu befinden haben wird. Bei Geschwindigkeits- oder Abstandsverstößen muss nach dem Zugeständnis der Halter-/Fahrereigenschaft und der Erklärung, keine weiteren Angaben machen zu wollen, der Betroffene auf Antrag von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen entbunden werden. Die Anordnung des persönlichen Erscheinens des Betroffenen steht dabei schon dem Wortlaut des § 73 Abs. 2 OWiG nach nicht im freien Ermessen des Gerichts, sondern ist an das Erfordernis gebunden, dass diese Maßnahme zur Sachaufklärung erforderlich ist. (Göhler/Seitz/Bauer OWiG § 73 Rn 5; KK-OWiG/Senge § 73 Rn 15; BeckOK StVR/Lay OWiG § 73 Rn 25). Der bloße Abgleich eines vom Einwohnermeldeamt beigezogenen Lichtbilds mit dem Messbild genügt bei schweigendem Betroffenen nicht einmal für eine Verurteilung im Beschlussweg, bei welcher ja der wesentliche Sachverhalt aufgeklärt sein muss. Erst recht kann in dieser Situation der Richter nicht mit einem solchen Bildabgleich die Erklärung der Fahrereigenschaft in Zweifel ziehen, wenn er nicht dokumentierte weitere Anhaltspunkte für etwa einen "Punktehandel" zur Verfügung hat, den er dem geständigen Betroffenen unterstellen will. Der Richter ist zudem aus Gründen der Verhältnismäßigkeit, gerade bei weit entfernt wohnenden Betroffenen, verpflichtet, zunächst andere Ermittlungsmaßnahmen anzustrengen, wozu im vorliegenden Fall gehört hätte, die örtliche Polizeiinspektion zu beauftragen, sich ein Bild vom Betroffenen zu machen (vgl. KK-OWiG/Senge § 73 Rn 28 m.w.N.). Die Krönung ist aber, dass das für das AG zuständige Rechtsbeschwerdegericht die hier vorgenommene, leicht als Gängelung des Betroffenen durchschaubare Verhaltensweise als unzulässig eingestuft hat: "Der Antrag des Betroffenen, ihn nach Einräumung der Fahrereigenschaft gem. § 73 Abs. 2 OWiG von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden, kann nicht wegen der rein theoretischen Möglichkeit eines falschen Geständnisses abgelehnt werden." (OLG Stuttgart, Beschl. v. 10.10.2013 – 4 a Ss 428/13).
Sollte diese Rechtspraxis bei AG und LG fortgesetzt werden, müssten davon betroffene Verteidiger auch über Befangenheitsanträge nachdenken: Schon bei konsequenter Verweigerung von sachlich begründeten Verlegungsanträgen kann auch ein Befangenheitsantrag begründet sein (vgl. OLG Naumburg, Beschl. v. 8.10.2012 – 2 Ss (B) 101/12, jurisPR-VerkR 10/2013 Anm. 6). Erst recht muss dies für Anträge gelten, die das Gericht ohne Ermessen verbescheiden muss.
RAG Dr. Benjamin Krenberger, Landstuhl
zfs 9/2023, S. 532 - 533