Entscheidungsstichwort (Thema)
Bußgeldverfahren. Geschwindigkeitsüberschreitung. Zulassungsrechtsbeschwerde. Urteilsaufhebung. Zurückverweisung. Einspruch. Einspruchsverwerfung. Verwerfungsurteil. Hauptverhandlung. Hauptverhandlungstermin. Verhandlungsbeginn. Urteilsverkündung. Ausbleiben. Entschuldigung. Gehör. Gehörsverstoß. Gehörsrüge. Rechtsmittelrechtfertigungsschrift. Darlegungsanforderungen. Sacheinlassung. entscheidungserheblich. Erscheinenspflicht. Entbindung. Entbindungsantrag. Verteidiger. Vertretungsvollmacht. Anwaltspostfach. beA. Dokument. elektronisch. Gerichtseingang. Gerichtsnetz. gerichtsintern. Organisation. Speicherung. zentral. Prüfvermerk. Weiterleitung. Verzögerung. verfahrensfremd. verfahrenswidrig. Missbrauch. verfahrensmissbräuchlich
Leitsatz (amtlich)
1. Für die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) ist auch im Antragsverfahren auf Zulassung der Rechtsbeschwerde eine (behauptete) Gehörsverletzung mit der Verfahrensrüge geltend zu machen.
2. Dies gilt auch dann, wenn die Zulassungsrechtsbeschwerde mit einem Gehörsverstoß nach einer Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG begründet wird. Den sich aus den §§ 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO ergebenden Darlegungsanforderungen ist deshalb regelmäßig nur genügt, wenn sich aus dem Rügevortrag auch ergibt, dass und wie sich der Betroffene bezogen auf den Tatvorwurf im Falle einer Anhörung in der Hauptverhandlung in der Sache konkret eingelassen bzw. verteidigt hätte.
3. Maßgeblicher Eingangszeitpunkt des für die Bearbeitung durch das Gericht geeigneten elektronischen Dokuments ist nach § 32a Abs. 5 Satz 1 StPO seine Speicherung auf der für den Empfang bestimmten Einrichtung des zuständigen Gerichts.
4. Auch dann, wenn der Entbindungsantrag als elektronisches Dokument per besonderem elektronischen Anwaltspostfach (beA) erst am Sitzungstag und nur kurz vor dem Termin (hier: 1 Stunde und 18 Minuten) bei einer für den gerichtlichen Eingang bestehenden ,zentralen Stelle' eingeht, darf der Einspruch jedenfalls dann nicht ohne vorherige Entscheidung über den Entbindungsantrag verworfen werden, wenn der Antrag mit 'offenem Visier', d.h. nicht bewusst oder in rechtsmissbräuchlicher Absicht "versteckt" oder "verklausuliert" gestellt wurde. Darauf, ob der per beA übermittelte Entbindungsantrag bis zum Erlass der Entscheidung tatsächlich zur Kenntnis des Gerichts gelangt oder bei der zugehörigen Geschäftsstelle eingeht, kommt es nicht an. Maßgeblich ist allein, ob der Antrag bei gehöriger gerichtsinterner Organisation rechtzeitig hätte zugeleitet werden können.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; OWiG § 46 Abs. 1, § 73 Abs. 2-3, § 74 Abs. 2, § 79 Abs. 3 S. 1, Abs. 5 S. 1, Abs. 6, § 80 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 S. 3, § 80a Abs. 1; StPO § 32a Abs. 5 Sätze 1-2, § 344 Abs. 2 S. 2, § 353
Verfahrensgang
AG Wunsiedel (Entscheidung vom 20.11.2023) |
Tenor
I. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Wunsiedel vom 20. November 2023 wird zugelassen.
II. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Wunsiedel vom 20. November 2023 aufgehoben.
III. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das Amtsgericht Wunsiedel zurückverwiesen.
Gründe
I.
Mit Bußgeldbescheid vom 01.06.2023 setzte die Zentrale Bußgeldstelle im Bayerischen Polizeiverwaltungsamt gegen den Betroffenen wegen einer am 12.02.2023 als Führer eines Pkws auf einer Autobahn begangenen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um (toleranzbereinigt) 26 km/h eine Geldbuße von 225 Euro fest. Den hiergegen gerichteten Einspruch des Betroffenen hat das Amtsgericht in Abwesenheit des Betroffenen und seines Verteidigers mit Urteil vom 20.11.2023 nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen, weil der ordnungsgemäß geladene, von der persönlichen Erscheinenspflicht nicht entbundene Betroffene zum Hauptverhandlungstermin ohne genügende Entschuldigung nicht erschienen und auch nicht durch einen mit nachgewiesener Vollmacht versehenen Verteidiger vertreten worden sei. Im Übrigen seien Gründe für das Ausbleiben des Betroffenen weder vorgetragen noch ersichtlich. Zwar sei seitens des Verteidigers mit Schriftsatz vom 19.11.2023 beantragt worden, den Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen zu entbinden. Jedoch sei dieser Schriftsatz erst am 20.11.2023 um 11.41 Uhr elektronisch bei Gericht eingegangen. Da der elektronische Eingang "zentral" erfolge, sei der Schriftsatz erst gegen 13.00 Uhr auf der zuständigen Geschäftsstelle eingetroffenen, sodass er der Richterin bei der Urteilsverkündung um 13.16 Uhr nicht vorgelegen und nicht habe berücksichtigt werden können.
Gegen dieses Verwerfungsurteil wendet sich der Betroffene mit seiner Rechtsbeschwerde, deren Zulassung er beantragt. Der Betroffene rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts, insbesondere die Verletzung rechtlichen Gehörs.
II.
Die Rechtsbeschwerde...