StVO § 1 Abs. 2 § 25 Abs. 3; BGB § 249 § 254 § 276 § 823 Abs. 1; StVG § 7 Abs. 1 § 18 Abs. 1
Leitsatz
1. Hat ein aus Sicht des Kraftfahrers von links die Fahrbahn querender Fußgänger die Fahrbahn bereits betreten und ist noch in Bewegung, darf der Kraftfahrer nicht in jedem Fall darauf vertrauen, der Fußgänger werde in der Mitte der Fahrbahn stehenbleiben und ihn vorbeilassen (Festhaltung BGH, Urt. v. 24.2.1987 – VI ZR 19/86). (Rn.13)
2. Dem Vertrauen darauf, der Fußgänger werde an einer vorhandenen Mittellinie anhalten und das bevorrechtigte Fahrzeug passieren lassen, ist jedenfalls dann die Grundlage entzogen, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände Anlass für den Kraftfahrer besteht, am verkehrsgerechten Verhalten des Fußgängers zu zweifeln. Dies ist der Fall, wenn sich der Fußgänger nicht mit normaler Geschwindigkeit bewegt, sondern die Fahrbahn rennend zu überqueren versucht. (Rn.13) (Rn.14)
BGH, Urt. v. 4.4.2023 – VI ZR 11/21
1 Sachverhalt
[1] Der Kläger nimmt die Beklagten auf materiellen und immateriellen Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall in Anspruch.
[2] Der Unfall ereignete sich am 7.6.2014 gegen 23 Uhr auf der S. brücke in B. Die Fahrbahn der S. brücke besteht aus zwei durch eine Mittellinie getrennten Fahrstreifen mit jeweils einem Randstreifen, der als Fahrradweg markiert ist. Die Gesamtbreite der Fahrbahn beträgt rund 12,5 m. Der Beklagte zu 1 befuhr die Brücke aus K. kommend in Richtung F. mit einem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Pkw auf dem dafür vorgesehenen rechten Fahrstreifen, während der Kläger von dem aus der Fahrtrichtung des Beklagten zu 1 gesehen linken Gehweg aus begann, zu Fuß die Brücke zu überqueren. Nach Erreichen des von dem Beklagten zu 1 genutzten Fahrstreifens kam es zur Kollision zwischen dem Kläger und dem vom Beklagten zu 1 geführten Fahrzeug, wodurch der Kläger erheblich verletzt wurde.
[3] Der Kläger trägt vor, er habe die Fahrbahn der S. brücke mit "normaler" Geschwindigkeit überquert. Der Beklagte zu 1 habe erst gebremst, nachdem er mit dem Kläger kollidiert sei. Die Beklagten behaupten, der Kläger habe die Fahrbahn rennend und unmittelbar hinter einem Lieferwagen ohne anzuhalten überquert, weshalb der Beklagte zu 1 ihn erst unmittelbar vor dem Zeitpunkt des Zusammenstoßes habe wahrnehmen können und dann eine Vollbremsung vorgenommen habe, ohne dass dadurch jedoch der Zusammenstoß vermeidbar geworden wäre.
[4] Mit seiner Klage begehrt der Kläger unter Berücksichtigung eines ihn treffenden Mitverschuldens in Höhe von 50 % den Ersatz materieller und immaterieller Schäden sowie die Feststellung, dass die Beklagten ihm 50 % seines zukünftigen Schadens zu ersetzen haben. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat das Kammergericht durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger die von ihm geltend gemachten Ansprüche weiter.
2 Aus den Gründen:
[5] I. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung unter anderem ausgeführt, der Kläger habe unter Nichteinhaltung seiner aus § 25 Abs. 3 StVO resultierenden Sorgfaltspflichten die Fahrbahn auf der S. brücke überquert, ohne auf den bevorrechtigten Fahrzeugverkehr zu achten und dem vom Beklagten zu 1 geführten Fahrzeug den Vorrang einzuräumen. Die Missachtung dieser Sorgfaltspflicht des Fußgängers sei regelmäßig leichtfertig und daher grob fahrlässig. Der Kläger habe den insoweit gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweis nicht erschüttert. Insbesondere aufgrund der Fahrzeug- und der Straßenbeleuchtung habe er das vom Beklagten zu 1 geführte Fahrzeug rechtzeitig wahrnehmen können und müssen.
[6] Das Landgericht habe zutreffend ein unfallursächliches Verschulden des Beklagten zu 1 verneint. Der Beklagte zu 1 sei weder mit einer den Straßen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen nicht angepassten Geschwindigkeit gefahren (§ 3 Abs. 1 StVO) noch habe er gegen die allgemeine Sorgfaltspflicht des § 1 Abs. 2 StVO verstoßen. Entscheidend sei insoweit nicht auf den Zeitpunkt abzustellen, als der Kläger die Fahrbahn erstmals betreten habe, sondern auf den Zeitpunkt, als der Kläger den Mittelstreifen überquert, die vom Beklagten zu 1 befahrene Fahrspur betreten und dadurch für den Beklagten zu 1 erstmals erkennbar zum Ausdruck gebracht habe, trotz des Herannahens des vom Beklagten zu 1 geführten Fahrzeuges dessen Vorrang nicht zu beachten. Ein Fahrzeugführer brauche nämlich nicht damit zu rechnen, dass ein Fußgänger das Überqueren einer mehrspurigen Straße über die Mittellinie hinaus fortsetze, obwohl das Kraftfahrzeug bereits nahe sei. Dieser Vertrauensgrundsatz erfahre lediglich Einschränkungen im Bereich des § 3 Abs. 2a StVO gegenüber Kindern, Hilfsbedürftigen und älteren Menschen, wobei jedoch selbst hier konkrete Umstände dafür sprechen müssten, dass ein nicht verkehrsgerechtes Verhalten einer solchen Person drohe. Grundsätzlich müsse kein Autofahrer mit einem unbedachten und unvorsichtigen Verhalten erwachsener Fußgänger im Straßenverkehr rechnen. Bei der et...