OWiG § 77
Leitsatz
Das Gericht ist im Bußgeldverfahren unter Befreiung vom Verbot der Beweisantizipation befugt, Beweisanträge nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG zurückzuweisen, wenn es seine nach § 77 Abs. 1 Satz 1 OWiG prinzipiell fortbestehende Aufklärungspflicht nicht verletzt. Verletzt ist die Aufklärungspflicht dann, wenn sich dem Gericht eine Beweiserhebung aufdrängen musste oder diese nahe lag. Bei der Verwendung eines standardisierten Messverfahrens zum Beleg einer Geschwindigkeitsüberschreitung drängt sich die weitere Beweisaufnahme zur Aufklärung auf oder liegt diese doch nahe, wenn konkrete Anhaltspunkte für technische Fehlfunktionen des Messgerätes behauptet werden.
(Leitsätze der Schriftleitung)
OLG Celle, Beschl. v. 16.7.2009 – 311 SsBs 67/09
Sachverhalt
Das AG hat den Betroffenen mit dem angefochtenen Urteil wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften zu einer Geldbuße von 170 EUR verurteilt. Zudem hat es ein Fahrverbot von einem Monat verhängt.
Nach den Feststellungen des AG befuhr der Betroffene am 16.9.2007 gegen 1.14 Uhr die Bundesstraße 6, Richtung Nienburg, mit seinem Pkw Audi und überschritt dabei die dort zulässige Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h nach Abzug der Messtoleranz von 3 % um 44 km/h. Die Messung wurde aus einer Entfernung von 262,65 m mit einem Laser-Geschwindigkeitsmessgerät der Marke Riegl vom Typ LR 90-235/P vorgenommen.
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen hebt das OLG das Urteil des AG mit den Feststellungen auf und verweist die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieselbe Abteilung des AG zurück.
Aus den Gründen
Aus den Gründen: „ … II. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und hat Erfolg.
Auf die zulässig erhobene Verfahrensrüge war das angefochtene Urteil aufzuheben. Der Betroffene hat mit seiner Verfahrensrüge geltend gemacht, das AG habe einen Beweisantrag zu Unrecht nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG abgelehnt, mit dem der Verteidiger des Betroffenen die Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis der Tatsache verlangt hatte, dass die Messung fehlerhaft war.
1. Der Rüge liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:
Der Verteidiger stellte für den Betroffenen in der Hauptverhandlung vom 23. Februar 2009 folgenden Beweisantrag:
“Ich beantrage die Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis der Tatsache, dass es sich
1. bei der gegenständlichen Messung um eine Fehlmessung handelt;
2. hilfsweise, dass der Betroffene nicht schneller als 110 km/h gefahren ist.’
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass eine ordnungsgemäße Justierung der Visiereinrichtung nicht stattgefunden habe. Der Zeuge J. habe in der Hauptverhandlung bekundet, dass er die Justierung vorgenommen habe, ohne sich an die Justierung am Vorfallstag im Einzelnen erinnern zu können. Er habe lediglich ausgesagt, dass er üblicherweise ein Verkehrsschild als Zielobjekt nehme, dass ca. 130 bis 150 m entfernt stehe. Die genaue Entfernung hänge vom Standort des Funkstreifenwagens ab, an den er sich aber nicht mehr erinnere. Danach sei nicht auszuschließen, dass die Entfernung zum Zielobjekt auch geringer als 130 m gewesen sei. Bei einer Unterschreitung von 130 m sei aber eine ordnungsgemäße Justierung der Zieleinrichtung nicht möglich.
Den Antrag lehnte das Gericht durch Beschluss in der Hauptverhandlung gem. § 77 Abs. 2 OWiG mit der Begründung ab, dass die beantragte Beweiserhebung zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich sei. Unter Berücksichtigung der durchgeführten Beweisaufnahme schließe das Gericht eine Fehlmessung aus.
Im angefochtenen Urteil wird ausgeführt, dass der Zeuge J. angegeben habe, er sei Messbeamter gewesen und habe “konkret an den Sachverhalt vom 16.9.2007 keine Erinnerung mehr’. Weiter heißt es dort: “Da gerichtsbekannt ist, dass der Zeuge J. über die notwendigen und ihm durch das Bildungsinstitut der Polizei Niedersachsen bescheinigten Kenntnisse zum Geschwindigkeitsmessgerät Riegl LR 90-235/P verfügt und er für Geschwindigkeitskontrollen gerade am Standort “Am Borloch’ über rountinemäßige Fähigkeiten verfügt, konnte das Gericht das Vorliegen einer Fehlmessung ausschließen, mit der Folge, dass ein Sachverständigengutachten hier nicht einzuholen war.’
2. Diese Begründung trägt die Ablehnung des gestellten Beweisantrages nicht.
Auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren ist das Gericht gem. § 77 Abs. 1 Satz 1 OWiG verpflichtet, die Wahrheit von Amts wegen zu erforschen. Den Umfang der Beweisaufnahme hat der Amtsrichter – unter Berücksichtigung der Bedeutung der Sache (§ 77 Abs. 1 Satz 2 OWiG) – nach pflichtgemäßem Ermessen zu bestimmen. In § 77 Abs. 2 OWiG ist für die Beweisaufnahme im Bußgeldverfahren zudem eine über das Beweisantragsrecht der Strafprozessordnung (§ 244 Abs. 3 bis 5 StPO) hinausgehende Sondervorschrift normiert. Danach kann das Gericht, wenn es den Sachverhalt nach dem bisherigen Ergebnis der Beweisaufnahme für geklärt hält, einen Beweisantrag auch dann ablehnen, wenn nach seinem pflichtgemäßen Ermessen die Beweiserhebung zur Erforschung der Wahrheit nich...