Der VR muss sich das Wissen seiner Angestellten und Vertreter (früher: Agenten) zurechnen lassen, das diese erlangen, während sie mit Abschluss und Bearbeitung des Vertrags beschäftigt sind. Für Versicherungsvertreter ist die sog. Auge-und-Ohr-Rechtsprechung durch § 70 VVG in das neue VVG aufgenommen worden. Die Kenntniserlangung kann nur dann schädlich für den VR sein, wenn sie bei bzw. nach Unterzeichnung des Antrags oder Abgabe einer Aufforderung zum Angebot und vor Zustandekommen des Vertrags eintritt.
Die "Auge-und-Ohr"-Rechtsprechung besagt, dass dem VR grundsätzlich dasjenige zugegangen ist, was der Agent in dem Vermittlungsgespräch im Zusammenhang mit der Aufnahme des Versicherungsantrags erfährt (vgl. nunmehr § 70 VVG n.F.). Da der Versicherungsvertreter nach § 69 Abs. 1 Nr. 1 VVG kraft Gesetzes als bevollmächtigt gilt, die vor Vertragsschluss vom VN abzugebenden Anzeigen und Erklärungen für den VR entgegenzunehmen, erfüllt der VN seine Anzeigeobliegenheit durch Mitteilungen an den Vertreter. Was dem Versicherungsvertreter mit Bezug auf die Antragstellung gesagt und vorgelegt wird, ist dem VR gesagt und vorgelegt worden. Werden also dem Versicherungsvertreter/Agenten gefahrerhebliche Umstände mitgeteilt, sind diese damit dem VR zur Kenntnis gelangt, wenn der Empfänger der Informationen als Stellvertreter des VR auftritt. Der Vertreter ist "Auge und Ohr" des Versicherungsunternehmens. Eine vorvertragliche Anzeigepflichtverletzung scheidet dann aus.
Tritt hingegen derjenige, der den Antrag mit dem Antragsteller ausfüllt, nicht als Vertreter des VR auf, kann eine Wissenszurechnung nicht erfolgen. "Auge-und-Ohr" ist grundsätzlich nur auf Personen anwendbar, die bei der Vertragsentgegennahme stellvertretend für den VR (passive Vertretungsmacht) tätig geworden sind; sie gilt auch dann, wenn ein Mitarbeiter eines Finanzdienstleisters – auch nur gelegentlich oder einmalig – in Untervollmacht eines Versicherungsagenten mit Wissen und Wollen des Agenten für ihn im Interesse des VR einen Versicherungsantrag aufnimmt. Auch ein Arzt – etwa bei Erstellung eines ärztlichen Zeugnisses auf Wunsch des VR – kann zur Entgegennahme der Antworten des Antragstellers beauftragt und passiver Stellvertreter des VR sein. Was dem Arzt dann zur Beantwortung der vom VR vorformulierten Fragen gesagt ist, ist dem VR gesagt, selbst wenn der Arzt die ihm erteilten Antworten nicht in die Erklärung aufnimmt.
Die Folgen gehen über die Problematik einer vorvertraglichen Anzeigepflichtverletzung hinaus: Werden schriftliche Erklärungen im Formular gegenüber dem Agenten mündlich ergänzt, nimmt dieser sie aber nicht auf, so werden auch diese Antragsinhalt. Fertigt der VR dann einen Versicherungsschein aus, der inhaltlich nicht dem vom Agenten entgegengenommenen und mündlich ergänzten Antrag entspricht, so liegt darin keine unveränderte Annahme des Antrages mit der Folge, dass §§ 5 VVG/5 VVG a.F. Anwendung findet. Unterlässt der VR die dort vorgeschriebene Rechtsbelehrung, weil er irrigerweise glaubt, der Versicherungsschein entspreche dem gestellten Antrag, so gilt er gem. § 5 Abs. 3 VVG a.F. als unverändert angenommen und der VR muss sich nach den Grundsätzen von "Auge und Ohr" dasjenige zurechnen lassen, was dem Agenten mündlich als Antragsänderung bzw. -ergänzung mitgeteilt wurde.
Die den VR grundsätzlich treffende Nachfrageobliegenheit gilt auch dann, wenn der Antragsteller bei der mündlichen Beantwortung von Antragsfragen dem das Antragsformular ausfüllenden Versicherungsvertreter gegenüber erkennbar unvollständige Angaben macht; dieser hat dann für die nach der Sachlage gebotenen Rückfragen zu sorgen. Unterlässt der Agent die Rückfragen, geht dies zu Lasten des VR, auch wenn dieser von den zur Nachfrage Anlass gebenden Umständen keine "echte" Kenntnis erlangt hat. Der VR kann sich dann nach Treu und Glauben nicht auf die Unvollständigkeit der Angaben des Antragstellers berufen.
In den nachfolgend beschriebenen Fällen erfolgt die Wissenszurechnung beim VR ausnahmsweise nicht.