VVG § 178 § 186; AUB 2000 Ziffer 2.1.1.1
Leitsatz
1. Die Hinweispflicht des VR in der Unfallversicherung gem. § 186 VVG besteht nur gegenüber dem VN und nicht auch gegenüber der versicherten Person. Bei einem rechtzeitig dem VN erteilten Hinweis kann sich der Versicherer auch gegenüber Ansprüchen der versicherten Person auf die in den Versicherungsbedingungen statuierten Ausschlussfristen (hier: zur ärztlichen Invaliditätsfeststellung) berufen.
2. Der dem VR obliegende Nachweis, dass der unfallursächliche Sturz aus einem Fenster nur entweder auf Freiwilligkeit (suizidale Absicht) oder auf einer Geistes- oder Bewusstseinsstörung beruhen kann, ist nicht geführt, wenn ein vom Versicherten dargestellter plausibler Ablauf, bei dem der Sturz auf dem bloßen Verlust des Gleichgewichts ohne innere Ursache beruhen kann, nicht widerlegt ist.
OLG Karlsruhe, Urt. v. 23.2.2018 – 12 U 111/17
Sachverhalt
Die Kl. fordert von der Bekl. Leistungen aus einer Unfallversicherung.
Die Kl. ist versicherte Person aus einer ursprünglich von ihrem – zwischenzeitlich verstorbenen – Ehemann bei der Bekl. abgeschlossenen Unfallversicherung mit einer Invaliditätssumme von 74.000 EUR.
Die Kl. stürzte am 1.3.2013 aus dem Fenster im zweiten Obergeschoss des damals von ihr und ihrem Ehemann bewohnten Anwesens. Die Kl. erlitt durch den Sturz schwere Verletzungen, u.a. erhebliche Bruchverletzungen. Sie befand sich vom 1.3.2013 bis 20.11.2013 wegen der Folgen in stationärer Krankenhausbehandlung. Auf die Unfall-Schadenanzeige vom 5.3.2013 übersandte die Bekl. an den Ehemann der Kl. ein Schreiben vom 8.3.2013, in welchem u.a. ausdrücklich auf die Frist von 15 Monaten für die schriftliche Feststellung der Invalidität durch einen Arzt, die Voraussetzung für eine Invaliditätsleistung sei, hingewiesen ist. Mit Schreiben vom 24.4.2013 lehnte die Bekl. eine Leistung aufgrund des Vorfalls mit der Begründung ab, dass es sich um einen Suizidversuch gehandelt habe.
2 Aus den Gründen:
"… 2. Die Kl. hat aus dem Versicherungsvertrag (Ziff. 2.5 AUB 2000) einen Anspruch auf Krankenhaustagegeld i.H.v. 6.300 EUR für den Zeitraum 1.3.2013 bis 20.11.2013."
a) Bei dem streitgegenständlichen Vorfall vom 1.3.2013 handelt es sich um einen Unfall i.S.v. Ziff. 1.3 AUB 2000 bzw. § 178 Abs. 2 VVG. Danach liegt ein Unfall vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet.
aa) Für die Frage, ob die Einwirkung “von außen' erfolgt, kommt es nur auf das Ereignis an, das die erste Gesundheitsschädigung unmittelbar herbeigeführt hat, nicht auf die jeweiligen Ursachen für dieses Ereignis, bei denen es sich auch um Eigenbewegungen bzw. körperinterne Vorgänge handeln kann (BGH zfs 2011, 579). Ist die Verletzung – wie hier – unmittelbare Folge des Aufpralls auf den Boden, liegt daher ein von außen wirkendes Ereignis vor. (…)
bb) Die Gesundheitsschädigung war auch unfreiwillig. Wenngleich dieses Merkmal Bestandteil des in den Bedingungen verwendeten Unfallbegriffs ist und damit eine Voraussetzung der Leistungspflicht des VR beschreibt, trifft die Beweislast für die Unfreiwilligkeit nicht den VN. Vielmehr wird die Unfreiwilligkeit nach § 178 Abs. 2 S. 2 VVG bis zum Beweis des Gegenteils vermutet (vgl. BGH zfs 1998, 390). Den Beweis des Gegenteils hat die Bekl. nicht erbracht.
(1) Ein Anscheinsbeweis für eine vorsätzliche Selbsttötung scheidet aus, da es um eine individuelle Willensentscheidung geht, die einer typisierenden Betrachtung nicht zugänglich ist (BGHZ 100, 214).
(2) Zwar kommt grundsätzlich ein Indizienbeweis in Betracht; das Gericht kann in freier Beweiswürdigung (§ 286 ZPO) aufgrund von Erfahrungssätzen und Hilfstatsachen zu der Überzeugung gelangen, die Vermutung sei widerlegt (BGHZ 100, 214). Dies erfordert ein für das praktische Leben brauchbares Maß an Gewissheit, das restlichen Zweifeln Schweigen gebietet. Hier lässt sich aber weder aus den unstreitigen noch aus den von der Bekl. unter Beweis gestellten Umständen schließen, dass sich die Kl. willentlich aus dem Fenster gestürzt hat.
Die Erklärung der Kl. in der Sitzung vom 5.10.2017, sie sei auf den Sessel gestiegen, um an den Fenstergriff zu gelangen, ist plausibel und nicht widerlegt. Dabei kommt es weder auf die exakte Körpergröße der Kl. an noch auf die Behauptung der Bekl., der Kl. sei es auch ohne Besteigen des Sessels möglich gewesen, das Fenster zu öffnen. Der Sessel befand sich nach dem Vortrag der Kl. und den von der Polizei gefertigten Aufnahmen zum Zeitpunkt des Vorfalls unmittelbar an der Wand unter dem Fenster und dem Fenstergriff. Daher ist es nachvollziehbar, dass die Kl., die – was auch in der Sitzung vom 5.10.2017 erkennbar war – nicht groß gewachsen ist, diesen als Aufstiegshilfe genutzt hat, um leichter das Fenster zu öffnen.
Dass die Kl. im Rahmen der informatorischen Anhörung angegeben hat, sie sei zum Zeitpunkt des Sturzes bei der Ärztin Dr. H. wegen einer Depression in Behandlung gewesen und habe die ihr verschriebenen Medikamente nicht konsequent gen...