BGB § 823 Abs. 1, StVG § 7 Abs. 1 § 11
Leitsatz
Der Begriff der Primärverletzung bezeichnet die für die Erfüllung der Haftungstatbestände des § 823 Abs. 1 BGB und des § 7 Abs. 1 StVG erforderliche Rechtsgutsverletzung. Er enthält kein kausalitätsbezogenes Element.
BGH, Urt. v. 26.7.2022 – VI ZR 58/21
Sachverhalt
[1] Die Klägerin nimmt den Beklagten auf Zahlung von Schmerzensgeld aufgrund eines Verkehrsunfalls in Anspruch.
[2] Am 23.11.2015 fuhr der Versicherungsnehmer des beklagten Haftpflichtversicherers von hinten auf das wegen eines Rückstaus an einer Kreuzung stehende Fahrzeug der Klägerin, in dem diese als Fahrerin saß, auf. Durch den Anstoß wurden unter anderem der Stoßfänger am Pkw der Klägerin hinten durchstoßen und die Schalldämpferanlage aus der Halterung gerissen. Die Airbags im Fahrzeug der Klägerin öffneten sich nicht. Bis zu diesem Tag war die Klägerin noch nicht bei einem Unfall verletzt worden. Eine Freundin von ihr war indes bei einem Verkehrsunfall verstorben. Darüber hinaus war die Klägerin Ersthelferin bei einem Verkehrsunfall gewesen, bei dem zwei Menschen verstorben sind.
[3] Die Klägerin behauptet, sie sei bei dem Unfall körperlich verletzt worden. Unmittelbar nach dem Unfall habe sie unter Kopfschmerzen gelitten. Später am Abend sei ihr übel geworden und sie habe sich übergeben. Sie habe sich daraufhin in das Evangelische Krankenhaus B. begeben, wo sie geröntgt worden sei. Im Anschluss sei eine HWS-Distorsion 2. Grades diagnostiziert worden. Ihre Nackenmuskulatur habe sich verhärtet gezeigt. Sie sei sodann zunächst bis zum 26.11.2015 krankgeschrieben worden. In dieser Zeit habe sie unter einer schmerzhaften Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule sowie starken Kopf- und Nackenschmerzen, die in den Rücken ausgestrahlt hätten, gelitten. Wegen anhaltender starker Kopf- und Nackenschmerzen sei sie am 30.11.2015 erneut krankgeschrieben worden und ihr seien Ibuprofen 600 mg zur Schmerzlinderung und Tizanidin zur Auflösung von Muskelverspannungen verordnet worden. Weiterhin seien ihr physiotherapeutische Behandlungen verordnet worden. Bis heute leide sie immer wieder an Nacken- und Kopfschmerzen. Bis zu dem Unfall sei sie beschwerdefrei gewesen. Die Klägerin ist der Auffassung, ihr stehe deshalb ein Schmerzensgeld von 750 EUR gegen den Beklagten zu.
[4] Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der vom Landgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
2 Aus den Gründen:
[5] I. Nach Auffassung des Berufungsgerichts steht der Klägerin ein Schadensersatzanspruch gegen den Beklagten nicht zu. Zwar stehe zur Überzeugung der Kammer fest, dass bei der Klägerin nach dem Unfallgeschehen Beschwerden und sichtbare Befunde vorgelegen hätten, die die Diagnose einer HWS-Distorsion 2. Grades rechtfertigten, und die Klägerin unter Kopf- und Nackenschmerzen gelitten habe. Eine HWS-Distorsion 2. Grades sei durch Beschwerden inklusive sichtbarer Befunde gekennzeichnet. Vorliegend seien bei der Klägerin ein Muskelhartspann und eine Steilstellung der Halswirbelsäule als sichtbare Befunde einer HWS-Distorsion feststellbar gewesen. Damit vereinbar seien auch die durch die Klägerin beschriebenen Kopf- und Nackenschmerzen, da insbesondere Verspannungen häufig mit einer Schmerzentwicklung einhergingen. Die Kammer habe aber Zweifel daran, dass die die Diagnose einer HWS-Distorsion rechtfertigenden sichtbaren Befunde bei der Klägerin eine Primärverletzung, verursacht durch einen Verkehrsunfall mit einer allein bewiesenen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsveränderung von 4 km/h und einer kollisionsbedingten mittleren Beschleunigung von etwa 11 m/s² darstellten. Die Sachverständige habe angegeben, es sei sehr unwahrscheinlich, dass eine Verletzungsmöglichkeit für die Halswirbelsäule der Klägerin bestanden habe. Es lägen keine Anhaltspunkte für vorbestehende Beschwerden der Halswirbelsäule der Klägerin vor. Auch der Untersuchungsbefund der Klägerin sei im Wesentlichen unauffällig, so dass von einer normalen Belastbarkeit ihrer Halswirbelsäule auszugehen sei. Hinsichtlich der individuellen Unfallsituation ergäben sich ebenfalls keine Besonderheiten. Die Klägerin habe als angeschnallte Fahrerin im stehenden Fahrzeug nach vorne schauend einen Auffahrunfall erlitten. Ihr Körper sei nirgendwo im Fahrzeug angestoßen. Weder die Feststellung eines Muskelhartspanns noch einer Steilstellung der Halswirbelsäule seien verletzungsspezifisch. Sie träten auch bei unfallunabhängigen Beschwerdebildern auf.
[6] Auch eine andere unfallbedingte Primärverletzung der Klägerin könne die Kammer nicht feststellen. Die Auffassung des Bundesgerichtshofs im Urt. v. 23.6.2020 (VI ZR 435/19), wonach auch starke Kopf- und Nackenschmerzen als unfallbedingte Körperverletzungen zu bewerten seien, halte die Kammer nicht für überzeugend. Das Verständnis, dass starke Kopf- und Nackenschmerzen bereits eine Primärfolge eines schädigenden Ereignisses darstellen könnten, entspreche nicht der Lebenswirklichke...