StVG § 3 Abs. 1 S. 1; FeV § 46 Abs. 1
Leitsatz
Der im Rahmen der Interessenabwägung berücksichtigte Gesichtspunkt einer jahrzehntelangen unfallfreien Teilnahme am Straßenverkehr kann den Befund, dass der Inhaber der Fahrerlaubnis aktuell nicht mehr befähigt zum Führen von Kfz ist, nicht entkräften (entsprechend BayVGH, Beschl. v. 6.4.2009 – 11 CS 09.450, juris Rn 17). Das hohe Alter eines Kraftfahrers rechtfertigt zwar für sich genommen nicht die Annahme einer Ungeeignetheit zum Führen von Kfz. Ebenso bietet auch nicht jeder altersbedingte Abbau der geistigen und körperlichen Kräfte Anlass für eine Entziehung oder Beschränkung der Fahrerlaubnis; hinzutreten muss vielmehr, dass es im Einzelfall zu nicht mehr ausreichend kompensierbaren, für die Kraftfahreignung relevanten Ausfallerscheinungen oder Leistungsdefiziten gekommen ist.
(Leitsatz der Schriftleitung)
OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 2.5.2012 – OVG 1 S 25.12
1 Aus den Gründen:
“Die gem. § 146 Abs. 4, § 147 VwGO zulässige Beschwerde des AG ist begründet. Das für die Prüfung des Senats maßgebliche Beschwerdevorbringen (§ 146 Abs. 4 S. 3 und 6 VwGO) rechtfertigt die teilweise Änderung des angegriffenen Beschl., dessen Ergebnis sich insoweit auch nicht aus anderen Gründen als zutreffend erweist. Das VG hätte den Antrag des ASt. auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis in vollem Umfang ablehnen müssen.
I. 1. Der AG hat die mit für sofort vollziehbar erklärtem Bescheid v. 6.6.2011 verfügte Fahrerlaubnisentziehung der Klassen A1, B, BE, C1, C1E, M, L und S gem. § 3 Abs. 1 S. 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 FeV im Wesentlichen wie folgt begründet: Der im Jahr 1929 geborene und an einer hereditären motorisch-sensiblen Neuropathie (HMSN), einer chronisch voranschreitenden Nervenkrankheit, die bei ihm zu einer teilweisen Lähmung beider Beine im Fußbereich geführt hat, leidende ASt. sei ungeeignet zum Führen von Kfz. Dies habe die am 26.5.2010 durchgeführte Fahrprobe ergeben, bei der er erhebliche Fahrfehler begangen habe: Mangelhafte Beobachtung des übrigen Verkehrs beim Rückwärtsfahren (körperlich bedingt) und Rechtsabbiegen bezüglich Radfahrerverkehr (4x), zu hohe Geschwindigkeit in einer Kurve beim Verlassen der BAB (Gefährdung) sowie Gefährdung von Vorfahrtstraßenbenutzern (notwendiger Eingriff durch Fahrlehrer). Der amtlich anerkannte Sachverständige oder Prüfer für den Kraftfahrzeugverkehr habe in seinem Gutachten v. 31.5.2010 diverse Auflagen (Sehhilfe, Hörhilfe, keine Benutzung der Autobahn) und Beschränkungen (Führen von Kfz der Klassen M, L und S ist nicht möglich, großflächiger Innenspiegel, kein Anhängerbetrieb, automatische Kraftübertragung, ab 1,2 t zGM Bremskraftverstärker für Betriebsbremse, Heckscheibe beheizbar, bei leicht verschmutzter Heckscheibe Wisch- und Waschanlage) für erforderlich gehalten.
Am 3.11.2010 habe eine psychologische Begutachtung des ASt. bei der ABV Begutachtungsstelle für Fahreignung in W. sowie am 6.12.2010 ein weiterer Leistungstest bei der DEKRA e.V. stattgefunden. Bei dem am 6.12.2010 durch eine Diplom-Psychologin, Fachpsychologin für Verkehrspsychologie durchgeführten Test habe der ASt. laut Gutachten v. 14.12.2010 schwerwiegende Auffälligkeiten in der selektiven Aufmerksamkeit (Orientierungs- und Reaktionsverhalten) gezeigt. Um ihm die Möglichkeit zu geben, seine mangelhaften Leistungsergebnisse zu kompensieren, sei eine (erneute) Fahrverhaltensbeobachtung angeordnet worden. Dabei seien am 12.4.2011 folgende Verhaltensweisen des ASt. festgestellt worden: Wiederholte Missachtung der Vorrangregelung (einmal Eingriff des Fahrlehrers), mangelhafte Verkehrsbeobachtung bezüglich Nachfolgeverkehr bei Fahrtrichtungsänderung, insb. Fahrstreifenwechsel, Abbiegevorgang bzw. Fahrstreifenwechsel nicht rechtzeitig angezeigt, wiederholte mangelhafte Beobachtung des übrigen Verkehrs beim Rechtsabbiegen bezüglich Radfahrerverkehr.
Auch unter Würdigung seiner gegen die Begutachtungen erhobenen Einwendungen verfüge der ASt. nicht über ausreichende Kompensationsmöglichkeiten, um die am 6.12.2010 ermittelten Leistungsminderungen im realen Verkehrsverhalten auszugleichen. Aufgrund seines bei der Fahrprobe, dem psychologischen Leistungstest und der Fahrverhaltensbeobachtung gezeigten erheblichen Fehlverhaltens sei unter Würdigung aller Umstände festzustellen, dass er, trotz seiner langjährigen unfallfreien Fahrpraxis, zum Führen von Kfz nicht (mehr) geeignet und somit von der Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr mit sofortiger Wirkung auszuschließen sei. Hierbei sei berücksichtigt worden, dass er durch den Fahrerlaubnisentzug in seiner Beweglichkeit und weiteren Lebensgestaltung sehr eingeschränkt werde; jedoch überwiege das berechtigte Interesse der Allgemeinheit gerade daran, die Gefahren, die von nicht geeigneten Inhabern einer Fahrerlaubnis für ihre Sicherheit ausgingen, nicht länger hinzunehmen, was auch die Anordnung der sofortigen Vollziehung rechtfertige.
2. Das VG hat die aufschiebende Wirkung des da...