Überraschend im obiter dictum ("Segelanweisung") ist die Bezugnahme des BGH auf seine alte Entscheidung v. 16.10.2001. Dort führt der BGH aus, dass der Tatrichter den Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit dann als geführt ansehen könne, wenn eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorliege.
Soweit sich der BGH auf die normative Schadenbetrachtung beruft, ist festzuhalten, dass der normative Schaden keine Rechtsgutverletzung ersetzen kann und will und auch nicht dazu dient, Beweisschwierigkeiten zu überwinden. Der normative Schadensbegriff erfasst Fälle, in denen die rechnerische Schadensbilanz den Normzweck der Haftung nicht ausreichend erfasst. Es kommt eine wertende Korrektur der Schadensbilanz in Betracht, wenn Vermögenseinbußen sich aufgrund überobligationsmäßiger Leistungen des Geschädigten oder infolge von Leistungen Dritter, die den Schädiger nicht entlasten sollen, nicht feststellen lassen. Genau dieses führt der BGH in der in Bezug genommenen Entscheidung v. 22.11.2016 aus. Der normative Schadensbegriff führt jedoch nicht dazu, dass ein erstattungsfähiger Schaden auch dann gegeben ist, wenn eine Rechtsgutverletzung überhaupt nicht oder in einem deutlich geringeren Maße als in der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung angenommen, vorliegt.
Der normative Schadensbegriff dient nicht dem Überwinden von Beweisschwierigkeiten. Wenn man einen normativen Schaden auch dann annimmt, wenn sich eine unfallbedingte Verletzung bzw. eine darauffolgende Arbeitsunfähigkeit nicht nachweisen lässt, führt dieses zu gravierenden Wertungswidersprüchen. Der Geschädigte, der einen Schmerzensgeldanspruch verfolgt, muss die unfallbedingte Verletzung sowohl dem Grunde nach als auch in ihrem Ausmaß nachweisen. Kann er dieses nicht, steht ihm kein Anspruch zu. Soll ihm aber dennoch aufgrund einer ärztlich bescheinigten Arbeitsunfähigkeit ein Verdienstausfall zustehen? In der Entscheidung v. 17.9.2013 hat der BGH explizit ausgeführt, dass die bloße Möglichkeit oder der Verdacht einer Verletzung nicht genügt. Dieser Entscheidung lag die Konstellation zugrunde, dass eine Krankenkasse die Erstattung von Heilbehandlungskosten verlangte. Auch hier lagen ärztliche Bescheinigungen vor. Zur Erstattungsfähigkeit dieser Kosten heißt es in der Entscheidung:
"Die Aufwendungen für den Arzt und die von ihm aufgrund seiner Verdachtsdiagnose eingeleiteten Maßnahmen noch die Kosten eines von ihm ausgestellten Attestes, dass der Geschädigte zur Durchsetzung seiner Ersatzansprüche wegen der vermeintlich erlittenen Personenschaden verwenden will, sind nur entschädigungspflichtig, wenn die angenommene unfallbedingte Körper- oder Gesundheitsverletzung tatsächlich verifiziert wird".
Auch die Heilbehandlungskosten stellen grundsätzlich einen Schaden des Verletzten dar. Wieso sollen Heilbehandlungskosten schadensrechtlich anders behandelt werden als ein Verdienstausfall? Mit dem Hinweis auf einen "normativen" Schaden lässt sich jedenfalls eine fehlende Rechtsgutverletzung nicht überspielen.