Hinweis: EuGH Pressemitteilung Nr. 171/21 v. 6.10.2021 zum Urteil in der Rechtssache C-136/20 LU (Einziehung von Geldbußen für Verkehrsdelikte):
"Die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen steht dem entgegen, dass die vollstreckende Behörde die rechtliche Einordnung der sanktionierten Verhaltensweise durch die Behörde, die die Entscheidung erlassen hat, in Frage stellt."
Wenn die Entscheidungsbehörde die Weigerung des Zulassungslenkers eines Kfz, die Person, die dieses Fahrzeug bei der Begehung eines Straßenverkehrsdelikts gelenkt hat, zu identifizieren, als "gegen die den Straßenverkehr regelnden Vorschriften verstoßende Verhaltensweise" einordnet, ist ihre Entscheidung, mit der die unterlassene Identifizierung geahndet wird, daher grundsätzlich zu vollstrecken.
Im Juni 2018 verhängten die österreichischen Behörden gegen LU, eine ungarische Staatsangehörige, eine Geldstrafe in Höhe von 80 EUR, weil sie als Zulassungslenkerin eines an der Begehung eines Straßenverkehrsdelikts im Gebiet der Gemeinde G (Österreich) beteiligten Kfz eine Verwaltungsübertretung begangen habe, indem sie auf das behördliche Verlangen, den Namen der Person anzugeben, die dieses Fahrzeug gelenkt habe, nicht geantwortet habe. Anschließend übermittelten die österreichischen Behörden die Entscheidung, mit der diese Geldstrafe verhängt wurde, gemäß dem Rahmenbeschluss über die gegenseitige Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen (Rahmenbeschlusses 2005/214/JI des Rates v. 24.2.2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen (ABl 2005, L 76, S. 16) dem Kreisgericht Zalaegerszeg, Ungarn, zur Vollstreckung. In diesem Zusammenhang teilten die österreichischen Behörden diesem Gericht mit, dass die Verwaltungsübertretung, die ihrer Strafverfügung zugrunde liege, in die Kategorie der "gegen die den Straßenverkehr regelnden Vorschriften verstoßenden Verhaltensweise" im Sinne des Rahmenbeschlusses falle. Letzterer sieht die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Bezug auf diese Zuwiderhandlungen ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit vor, das heißt unabhängig von der Frage, ob die diesen Zuwiderhandlungen zugrundeliegenden Verhaltensweisen auch nach dem Recht des Vollstreckungsstaats eine Zuwiderhandlung sind.
Das Kreisgericht Zalaegerszeg hat Zweifel daran, dass die österreichischen Behörden die unterlassene Identifizierung der Person, die das in Rede stehende Straßenverkehrsdelikt begangen hat, durch den Fahrzeugeigentümer richtig eingeordnet haben. Obwohl diese Behörden angegeben hätten, die begangene Zuwiderhandlung sei eine "gegen die den Straßenverkehr regelnden Vorschriften verstoßende Verhaltensweise" gewesen, würde die Verhaltensweise von LU eher eine Weigerung darstellen, einer Anordnung einer Behörde nachzukommen. Das Kreisgericht Zalaegerszeg ersucht daher den Gerichtshof um Klarstellung, ob der Rahmenbeschluss ihm gestattet, die von den österreichischen Behörden vorgenommene Einordnung des in Rede stehenden Unterlassens in Frage zu stellen.
In seinem heute ergangenen Urteil weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der der Systematik des Rahmenbeschlusses zugrundeliegt, insbesondere bedeutet, dass die Gründe, die Anerkennung oder Vollstreckung zu verweigern, eng auszulegen sind. Die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats ist folglich grundsätzlich verpflichtet, die übermittelte Entscheidung anzuerkennen und zu vollstrecken, und kann dies – abweichend von der allgemeinen Regel – nur dann verweigern, wenn einer der im Rahmenbeschluss ausdrücklich vorgesehenen Gründe für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung vorliegt.
Sodann führt der Gerichtshof aus, dass der Rahmenbeschluss die Straftaten und Verwaltungsübertretungen (Ordnungswidrigkeiten), einschließlich der "gegen die den Straßenverkehr regelnden Vorschriften verstoßenden Verhaltensweise", benennt, die ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit zur Anerkennung und Vollstreckung von übermittelten Entscheidungen führen, wenn sie im Entscheidungsstaat strafbar sind und "so wie sie in dessen Recht definiert sind“. Folglich ist die Behörde des Vollstreckungsstaats grundsätzlich an die Beurteilung der in Rede stehenden Zuwiderhandlung durch die Behörde des Entscheidungsstaats gebunden, insbesondere hinsichtlich der Frage, ob diese Zuwiderhandlung unter eine der Kategorien von Straftaten und Verwaltungsübertretungen (Ordnungswidrigkeiten) ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit fällt. Wenn also die Behörde des Entscheidungsstaats eine Zuwiderhandlung als unter eine dieser Kategorien fallend einordnet, ist die Behörde des Vollstreckungsstaats grundsätzlich verpflichtet, die Entscheidung, mit der diese Zuwiderhandlung sanktioniert wird, anzuerkennen und zu vollstrecken."
Unter diesen Umständen entscheidet der Gerichtshof, dass das Kreisger...