VVG § 5a a.F.
Leitsatz
1. Der Senat hält auch unter Berücksichtigung der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Urt. v. 24.2.2022, A u.a. [Unit-Linked-Versicherungsverträge], C-143/20 und C-213/20 …; v. 9.9.2021, Volkswagen Bank u.a., C-33/20, C-155/20 und C-187/20, v. 19.12.2019, Rust-Hackner u.a., C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18 daran fest, dass die Geltendmachung des Widerspruchsrechts gemäß § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG (hier in der Fassung vom 21.7.1994) auch bei einer fehlenden oder fehlerhaften Widerspruchsbelehrung ausnahmsweise Treu und Glauben (§ 242 BGB) widersprechen und damit unzulässig sein kann, wenn besonders gravierende Umstände des Einzelfalles vorliegen, die vom Tatrichter festzustellen sind.
2. Zum Einwand von Treu und Glauben ist keine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union geboten.
3. Die Ausübung des Widerspruchsrechts gegen einen im Policenmodell abgeschlossenen Versicherungsvertrag kann rechtsmissbräuchlich sein, wenn die Ansprüche aus dem Vertrag in engem Zusammenhang mit dem Abschluss eines Darlehensvertrages sicherungsabgetreten wurden, nicht aber in Fällen eines einmaligen Einsatzes als Kreditsicherungsmittel.
BGH, Urt. v. 19.6.2023 – IV ZR 268/21
1 Sachverhalt
Die Kl. macht gegen die Bekl. Ansprüche auf bereicherungsrechtliche Rückabwicklung einer kapitalbildenden Lebensversicherung nach Widerspruch geltend. Diese Versicherung wurde auf Antrag der Kl. vom 11.5.1999 mit Versicherungsbeginn zum 1.6.1999 nach dem sogenannten Policenmodell des § 5a VVG a.F. abgeschlossen. Die Kl. wurde über ihr Widerspruchsrecht nicht ordnungsgemäß belehrt. Mit einer dem Versicherungsantrag beigefügten Abtretungserklärung vom 11.5.1999 trat sie alle gegenwärtigen und künftigen Ansprüche aus dem abzuschließenden Versicherungsvertrag zur Sicherung eines Baudarlehens an die E-Bank) ab. Sie zahlte fortan die Beiträge.
Mit Schreiben vom 5.7.2018 widersprach die Kl. dem Abschluss der Lebensversicherung. Die Bekl. wies den Widerspruch zurück.
2 Aus den Gründen:
[7] Das BG hat der nicht ordnungsgemäß über ihr Widerspruchsrecht belehrten Kl. einen bereicherungsrechtlichen Rückabwicklungsanspruch aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB wegen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens nach Treu und Glauben gemäß § 242 BGB zu Recht versagt.
[8] 1. Eine rechtsmissbräuchliche Ausübung des Widerspruchsrechts hat das BG ohne Rechtsfehler deshalb bejaht, weil die Kl. zeitgleich mit dem Versicherungsantrag alle Rechte aus der Lebensversicherung als Sicherheit für ein Baufinanzierungsdarlehen an die Bank abgetreten und der Bekl. die Abtretungserklärung übersandt hatte.
[9] a) Nach der Rspr des Senats kann der VR bei einer nicht ordnungsgemäßen Belehrung zwar grundsätzlich kein schutzwürdiges Vertrauen für sich in Anspruch nehmen, weil er die Situation selbst herbeigeführt hat (vgl. Senat r+s 2018, 647 Rn 23 m.w.N.). Aber auch bei einer fehlenden oder fehlerhaften Widerspruchsbelehrung kann die Geltendmachung des Widerspruchsrechts ausnahmsweise Treu und Glauben widersprechen und damit unzulässig sein, wenn besonders gravierende Umstände des Einzelfalles vorliegen, die vom Tatrichter festzustellen sind (Senat VersR 2023, 631 Rn 21 m.w.N. …). Dementsprechend hat der Senat bereits tatrichterliche Entscheidungen gebilligt, die in Ausnahmefällen mit Rücksicht auf besonders gravierende Umstände des Einzelfalles auch dem nicht oder nicht ordnungsgemäß belehrten VN die Geltendmachung eines Bereicherungsanspruchs nach § 242 BGB verwehrt haben (…).
[10] Allgemein gültige Maßstäbe dazu, ob und unter welchen Voraussetzungen eine fehlerhafte Belehrung der Annahme einer rechtsmissbräuchlichen Geltendmachung des Widerspruchsrechts entgegensteht, können nicht aufgestellt werden. Vielmehr obliegt die Anwendung der Grundsätze von Treu und Glauben im Einzelfall dem Tatrichter. Auch in Fällen eines fortbestehenden Widerspruchsrechts kann die Bewertung des Tatrichters in der Revisionsinstanz nur daraufhin überprüft werden, ob sie auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht, alle erheblichen Gesichtspunkte berücksichtigt und nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt oder von einem falschen Wertungsmaßstab ausgeht (Senat VersR 2021, 1479 Rn 17 m.w.N.).
[11] b) Die Annahme besonders gravierender Umstände billigt der Senat nur in wenigen Konstellationen, etwa bei der Sicherungsabtretung einschließlich der Todesfallleistung in engem Zusammenhang mit dem Abschluss eines Darlehensvertrages (vgl. Senat r+s 2016, 230 Rn 16). Allein der einmalige Einsatz der Lebensversicherung als Kreditsicherungsmittel ist jedoch in der Regel nicht als besonders gravierender Umstand zu werten, der dem VN die Geltendmachung seines Anspruchs verwehrt.
Der Einsatz der Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag zur Sicherung der Rechte eines Dritten aus einem Darlehensvertrag lässt keinen zwingenden Schluss darauf zu, dass der VN in Kenntnis seines Lösungsrechtes vom Vertrag an diesem festgehalten und von seinem Recht keinen Gebrauch gemacht hätte. Hingegen kann ein schutzwürdiges Vertrauen...