StVG § 7 Abs. 1 § 17 Abs. 3 § 17 Abs. 2; StVO § 23 Abs. 1 S. 1 § 5 Abs. 7 S. 1 § 3 Abs. 1 S. 2 § 2 Abs. 2 § 9 Abs. 1 § 9 Abs. 5 § 1 Abs. 2; StVZO § 54 Abs. 1 S. 3
Leitsatz
1. Die Annahme eines unabwendbaren Ereignisses im Sinne von § 17 Abs. 3 StVG für einen nach links abbiegenden Schlepperfahrer ist bereits dann ausgeschlossen, wenn sein linker Rückspiegel entgegen § 23 Abs. 1 Satz 1 StVO verschmutzt ist und nicht auszuschließen ist, dass der Schlepperfahrer einen überholenden Motorradfahrer ohne Verschmutzung gesehen hätte.
2. Ein Verstoß des überholenden Motorradfahrers gegen § 5 Abs. 7 Satz 1 StVO kann nicht in die Abwägung der Verursachungsbeiträge eingestellt werden, wenn schon nicht feststeht, dass der Abbiegende seinen linken Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt hat, und zudem Zweifel bestehen, ob die Erkennbarkeit des Fahrtrichtungsanzeigers im Hinblick auf seine Verschmutzung (Verstoß gegen § 54 Abs. 1 Satz 3 StVZO) gewährleistet war.
3. Der Überholende ist nach § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO nicht verpflichtet, seine Geschwindigkeit bei Annäherung an ein zu überholendes Fahrzeug zu ermäßigen, vielmehr muss er den Überholungsvorgang mit möglichster Beschleunigung durchführen (im Anschluss an BGH Urt. v. 19.1.1956 – 4 StR 427/55, BeckRS 1956, 103580 = beck 5).
4. Der Überholende ist nicht verpflichtet, möglichst frühzeitig einen Spurwechsel vorzunehmen, sondern nach § 2 Abs. 2 StVO gehalten, möglichst lange möglichst weit rechts zu fahren.
5. Biegt ein Schlepper in einem Wirtschaftsweg ein, hat er nicht nur zuvor rechtzeitig den Fahrtrichtungsanzeiger nach § 9 Abs. 1 Satz 1 StVO zu setzen und doppelte Rückschau nach § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO zu halten, sondern im Einzelfall – wie hier – trotz fehlenden Abbiegens in ein Grundstück nach § 1 Abs. 2 StVO in entsprechender Anwendung des § 9 Abs. 5 StVO eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen (in Anlehnung an BGH Urt. v. 17.1.2023 – VI ZR 203/22, r+s 2023, 265 Rn 25, 30; im Anschluss an OLG Naumburg Urt. v. 12.12.2008 – 6 U 106/08, NJW-RR 2009, 744 = juris Rn 19; OLG Stuttgart Beschl. v. 8.4.2011 – 13 U 2/11, BeckRS 2011, 14283 = juris Rn 16).
OLG Hamm, Urt. v. 2.7.2024 – I-7 U 74/23
1 Aus den Gründen:
(abgekürzt gemäß § 540 Abs. 2, § 313a Abs. 1 Satz 1, § 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO)
I. Die zulässige Berufung der Beklagten hat Erfolg. Sie ist begründet, da die zulässige Klage unbegründet ist.
1. Der Kläger hat gegen die Beklagte wegen der Beschädigungen an seinem Ackerschlepper durch den streitgegenständlichen Verkehrsunfall keinen Anspruch auf Schadensersatz. Ein solcher Anspruch folgt insbesondere nicht aus § 7 Abs. 1 StVG, § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG, § 1 PflVG.
Zwar sind die Beschädigungen am klägerischen Ackerschlepper bei Betrieb des bei der Beklagten versicherten Motorrades entstanden. Der Anspruch des Klägers ist aber nach § 17 Abs. 2 und 1 StVG ausgeschlossen, weil der Unfall jedenfalls weit überwiegend durch den Führer des klägerischen Ackerschleppers, den Zeugen A, verursacht worden ist.
a) Eine Abwägung der Verursachungsbeiträge ist nicht nach § 17 Abs. 3 Satz 1 und 2 StVG zugunsten des Klägers ausgeschlossen, da sich der Unfall – wie auch das Landgericht festgestellt hat – aus dessen Sicht nicht als unabwendbares Ereignis darstellt. Das Landgericht hat die Feststellung getroffen, dass der linke Außenspiegel verschmutzt war. Dadurch hat der Zeuge A gegen § 23 Abs. 1 Satz 1 StVO verstoßen. Es ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass – worauf das Landgericht nicht näher eingegangen ist – eine freie Rücksicht dazu geführt hätte, dass der Zeuge A das Motorrad rechtzeitig hätte bemerken und den Abbiegevorgang unfallverhindernd abbrechen können.
b) Die mangels Unabwendbarkeit durchzuführende Abwägung der feststehenden – unstreitigen, zugestandenen oder bewiesenen – Verursachungsbeiträge nach § 17 Abs. 1 StVG ergibt eine Alleinhaftung des Klägers.
aa) Zulasten der Beklagten lassen sich keine die Betriebsgefahr erhöhenden Umstände feststellen.
(1) Es war kein Verstoß des verstorbenen Motorradfahrers gegen § 5 Abs. 7 Satz 1 StVO, wonach derjenige, der seine Absicht nach links abzubiegen, angekündigt und sich eingeordnet hat, rechts zu überholen ist, in die Abwägung einzustellen. Ein solcher Verstoß lässt sich nicht feststellen. Zwar ist das Landgericht von einem solchen Verstoß ausgegangen und hat ihn damit begründet, dass der Zeuge A den Fahrtrichtungsanzeiger ca. 130 m vor dem Abbiegevorgang – rechtzeitig – gesetzt habe und dieser für den Motorradfahrer – trotz der Verschmutzungen am Fahrtrichtungsanzeiger – sichtbar gewesen sei.
Der Senat ist an diese Feststellung des Landgerichts aber nicht gebunden, da an den Feststellungen des Landgerichts Zweifel bestehen. Nach § 529 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist das Berufungsgericht an die vom erstinstanzlichen Gericht festgestellten Tatsachen gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Konkrete Anhaltspunkte, welc...