1. Da es zwischen den Parteien unstreitig war, dass der Kl. eine HWS-Distorsion bei dem Unfallereignis erlitten hatte, und der Streit der Parteien sich nur um deren Schweregrad drehte, war für die Beweiswürdigung die dem Kl. günstige Beweisregel des § 287 ZPO heranzuziehen. Stand mit dem vollen Beweismaß des § 286 ZPO fest, dass der Geschädigte eine Primärverletzung erlitten hatte, war die Frage, ob der Unfall über diese Primärverletzung hinaus auch für die weiteren Beschwerden des Geschädigten ursächlich war, eine Frage der haftungsausfüllenden Kausalität, die anhand des dem Geschädigten günstigen Beweismaßes des § 287 ZPO zu prüfen ist (vgl. BGH NJW 1952, 301; BGH NJW 2004, 1945 und 777; OLG Saarbrücken NJW-RR 2011, 178).
2. Die danach erforderliche überwiegende Wahrscheinlichkeit des Eintritts der behaupteten Unfallfolgen prüft der Senat durch die Heranziehung des Ausschlussverfahrens, wobei ein Nachweis dann geführt ist, wenn alle anderen Ursachen für die Folgeschäden als der Unfall ausscheiden. Dass der Senat bei der Gesamtbetrachtung auch untersucht, mit welcher Aufprallenergie auf das Fahrzeug des Kl. aufgefahren ist, steht nicht im Widerspruch zu den Grundsätzen des Urt. des BGH v. 28.1.2003, in dem sogar für den Bereich des § 286 ZPO eine ausnahmslos geltende Harmlosigkeitsgrenze bei Auffahrunfällen mit geringer Geschwindigkeitsänderung des aufgefahrenen Fahrzeugs verneint wurde. Die von Gerichten vertretene Auffassung, dass bei Heckunfällen im Niedriggeschwindigkeitsbereich mit kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderungen zwischen 4 und 10 km/h eine Verletzung der Halswirbelsäule ausnahmslos auszuschließen sei (vgl. OLG Hamm NJW 2000, 878, 879; OLG Hamm DAR 2001, 361; KG VersR 2001, 597) wurde auch nach der Kritik von Orthopäden in Zweifel gezogen (vgl. Castro/Becke, zfs 2002, 365, 366).
Der BGH betonte, dass schematische Aussagen aus juristischer Sicht über angebliche zwingende Ausschlussgründe für den Eintritt eines HWS-Syndroms das Ziel der Beweisaufnahme verfehlen. So gesehen sind Kataloge von medizinischen Ausschlussgründen für den Ausschluss des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Unfallereignis und dem Eintritt der beklagten Beschwerden (vgl. den Katalog der Ausschlussgründe für den Ursachenzusammenhang zwischen Unfallereignis und Eintritt des HWS-Syndroms bei Jahnke, in: van Bühren/Lemcke, Anwaltshandbuch Verkehrsrecht, 2. Aufl., Teil 4 Rn 42 ff.), dann nicht hilfreich, wenn nicht auch eine Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung des plausiblen und glaubhaften Klägervortrags vorgenommen wird. Der Umstand, dass die Diagnostik derzeit noch nicht objektivierbare Befunde über Schädigungen der HWS mit dem Ausmaß der Grade I und II nach Erdmann treffen kann, würde zu einem nicht hinzunehmenden Ausschluss des Geschädigten von Ersatzansprüchen führen (Rn 67). Die Gesamtbetrachtung der Kausalität muss an der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung anknüpfen, da die Verneinung einer ausnahmslos geltenden Harmlosigkeitsgrenze kein Denkverbot im Zusammenhang mit der Gesamtbetrachtung begründet hat. Je höher die Kollisionsgeschwindigkeit ist, desto größer ist die "Chance" eines HWS-Syndroms (Rn 54).
Die Berücksichtigung des Klägervorbringens, die Inhalt der Verhandlung ist und deshalb bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen ist, stellt auch ein Mittel dar, um die als ungerecht empfundene mangelnde Beweismöglichkeit durch objektivierbare Befunde zu überwinden.
RiOLG a.D. Heinz Diehl
zfs 1/2014, S. 21 - 26