BGB § 823, 276; StVG §§ 7, 9, 18; BefBedV § 4 Abs. 3 S. 5
1. Es obliegt dem Fahrgast eines Linienbusses für hinreichende Eigensicherung zu sorgen, da er jederzeit während der Fahrt mit ruckartigen Bewegungen des Verkehrsmittels rechnen muss, die seine Standsicherheit beeinträchtigen; denn derartige Erscheinungen liegen in der Natur des Busbetriebes.
2. Stürzt der Fahrgast, der sich bei Annäherung an eine Haltestelle während einer Betriebsbremsung zum Aussteigen von seinem Sitz erhoben hat, weil er einen Bremsruck verspürte und eine Haltestange verfehlte, kann an eine Haftungsverteilung von ¾ zu ¼ zu Lasten des Fahrgastes gedacht werden.
(Leitsatz des Einsenders)
KG, Hinweisbeschl. v. 29.6.2010 – 12 U 30/10
Der zum Unfallzeitpunkt 77 Jahre alte Kl. kam in einem von dem Bekl. zu 1) geführten und von der Bekl. zu 2) gehaltenen Linienbus während eines Abbremsens zum Anhalten an einer Haltestelle zu Fall und wurde hierbei erheblich verletzt. Der Kl. hatte sich beim Anfahren an die Haltestelle von seinem Sitzplatz im vorderen rechten Bereich des Busses erhoben, um auszusteigen. Der Bekl. zu 1) bremste den Bus wegen des beabsichtigen Anhaltens ab, wodurch der Kl. aus dem Gleichgewicht geriet und auf den Rücken stürzte. Zwischen den Parteien besteht Streit, ob der Bekl. zu 1) ruckartig gebremst habe, was für den Kl. nicht voraussehbar gewesen sei (so der Kl.) oder ob der Bekl. zu 1) normal abgebremst habe, der Sturz des Kl. darauf zurückzuführen sei, dass der Kl. sich keinen ausreichenden Halt verschafft habe (so die Bekl.). Das LG hat die Haftung der Bekl. in vollem Umfang bejaht und ein Mitverschulden des Kl. an dem Eintritt des Unfalls als nicht erwiesen erachtet. Die Berufung der Bekl. wurde hinsichtlich ihrer Erfolgsaussichten in dem Hinweisbeschluss gewürdigt.
Aus den Gründen:
“Die Berufung hat Aussicht auf Erfolg, dessen Umfang von der Abwägung der zu bewertenden Verursachungs- und Verschuldensanteile der Parteien abhängt (§§ 7, 9, 18 StVG, § 254 BGB).
Nach § 513 ZPO kann die Berufung erfolgreich nur darauf gestützt werden, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung beruht oder nach § 529 ZPO zugrunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen.
Hier hat das LG die Voraussetzungen des Mitverschuldens des Kl. verkannt.
1. Soweit das LG die grds. Voraussetzungen eine Haftung der Bekl. aus einfacher Betriebsgefahr des Busses (§ 7 StVG) und vermutetem Verschulden des Busfahrers (§ 18 StVG) hergeleitet hat, begegnet dies keinen Bedenken.
Auch die Bekl. vertreten die Auffassung, dass eine Haftung aus einfacher Betriebsgefahr des Busses lediglich im Wege der Abwägung mit dem erheblichen Eigenverschulden des Kl. entfällt.
2. Die Bekl. rügen zu Recht, dass das LG die Grundsätze zum Mitverschulden des Fahrgastes nicht zutreffend angewandt hat.
a) Die Ausführungen auf S. 4 des angefochtenen Urteils, die Obliegenheit des Fahrgastes aus § 4 Abs. 2 S. 5 der Verordnung über die Allg. Beförderungsbedingungen … würden sich dem Wortlaut nach auf das ‘Suchen’ einer Haltemöglichkeit beschränken, sind für den Senat nicht nachvollziehbar.
Abgesehen davon, dass die Auslegung sich nicht auf den Wortlaut beschränken darf, sondern nach Sinn und Zweck der Regelung fragen muss, hat die vom LG herangezogene Verordnung bereits einen anderen Wortlaut:
In der ‘Verordnung über die Allgemeinen Beförderungsbedingungen für den Straßenbahn- und Obusverkehr sowie den Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen’ (BefBedV) v. 27.2.1970 (BGBl I S. 230), zuletzt geändert durch Art. 4 der Verordnung vom 8.11.2007 (BGBl I S. 2569) ist unter § 4 Abs. 3 S. 5 bestimmt:
‘Jeder Fahrgast ist verpflichtet, sich im Fahrzeug stets einen festen Halt zu verschaffen.’
Daher und darüber hinaus gilt nach obergerichtlicher Rspr.:
Es obliegt dem Fahrgast eines Linienomnibusses im Stadtverkehr für eine hinreichende Eigensicherung zu sorgen, da er jederzeit auch mit einem scharfen Bremsen des Busses rechnen muss (vgl. Senat VerkMitt 1996, 45 Nr. 61; OLG Hamm VerkMitt 1999, 37 Nr. 36; DAR 2000, 64; vgl. auch OLG Köln, VersR 2000, 1120; OLG Frankfurt NZV 2002, 367 sowie Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl. 2009, StVG § 16 Rn 5).
Der Fahrgast muss auch – außerhalb von Fahrfehlern – während der Fahrt mit ruckartigen Bewegungen des Verkehrsmittels rechnen, die seine Standsicherheit beeinträchtigen; denn derartige Erscheinungen liegen in der Natur eines Busbetriebes (Senat, Urt. v. 16.10.1995 – 12 U 1438/94 – VM 1996, 45 Nr. 61). Der Fahrgast ist selbst dafür verantwortlich, dass er durch typische und zu erwartende Bewegungen des Busses oder der Straßenbahn nicht zu Fall kommt (OLG Frankfurt, Urt. v. 15.4.2002 – 1 U 75/01 – NZV 202, 367 = VRS 103, 6) und muss sich Halt auch gegen unvorhergesehene Bewegungen verschaffen (OLG Düsseldorf VersR 1972, 1171; Senat, Beschl. v. 1.3.2010 – 12 U 95/09 – für Straßenbahn).
b) Nach diesen Grundsätzen trifft den Kl. ein unfallursächliches Mitverschulden.
Der Kl. hat vor dem LG am 10.12.2009 u.a. erklärt:
‘Als der Bus bei Annäheru...