Kommt es zu einer Vorfahrtverletzung, haftet der Wartepflichtige regelmäßig allein. Liegen keine Besonderheiten vor, tritt die Betriebsgefahr des Fahrzeugs des Vorfahrtberechtigten grundsätzlich völlig zurück. Etwas Anderes kann jedoch in den Fällen der "halben Vorfahrt" gelten.
Ist an einer Kreuzung die Vorfahrt nicht durch Verkehrszeichen oder anderweitig besonders geregelt, gilt die Vorfahrtregel "rechts vor links". Hieraus folgt, dass der von links kommende Verkehr gegenüber dem Verkehr rechts von ihm wartepflichtig ist. Um dieser Pflicht zu genügen, darf er sich der Kreuzung nur mit mäßiger Geschwindigkeit nähern, um ggf. die Vorfahrt zu achten. Allerdings gilt diese Pflicht auch für den Vorfahrtberechtigten. Denn dieser muss ggf. seinerseits dem aus seiner Sicht von rechts kommenden die Vorfahrt gewähren ("halbe Vorfahrt").
Es ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung seit langem anerkannt, dass diese Pflicht des Vorfahrtberechtigten auch dem Wartepflichtigen zu Gute kommen kann. Denn gem. § 8 Abs. 2 StVO darf sich der Wartepflichtige der Kreuzung nur mit mäßiger Geschwindigkeit nähern. Es würde einen Verstoß gegen § 3 Abs. 1 S. 2 StVO darstellen, wenn an einer unübersichtlichen Stelle zu schnell gefahren werden würde. Diese Vorschrift verfolgt ganz allgemein den Zweck, Zusammenstöße an gefährlichen und unübersichtlichen Straßenstellen, wie sie Kreuzungen ohne Sicht auf die einmündende Straßen immer darstellen, zu verhindern; sie dient daher auch dem Schutz des wartepflichtigen, jeweils von links kommenden Verkehrs (BGH VersR 1977, 917; NJW 1985, 2757).
Der Vorfahrtberechtigte muss dann von der Inanspruchnahme der Vorfahrt absehen, wenn er bei gehöriger Aufmerksamkeit in einem Zeitpunkt, in welchem er einen Unfall noch verhindern kann, eine drohende Verletzung seines Vorfahrtrechts erkennen muss. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Vorfahrtberechtigte die Gefahr eines Zusammenstoßes rechtzeitig erkennt, sondern ob er sie bei Anwendung der von ihm als Kraftfahrer im Verkehr zu fordernden Sorgfalt erkennen muss (LG Saarbrücken NJW-RR 2012, 159).
Gelingt daher dem Wartepflichtigen der Nachweis, dass der Vorfahrtberechtigte im Hinblick auf seine eigene Wartepflicht zu schnell an die Kreuzung herangefahren war, ist regelmäßig eine Mithaftung des Vorfahrtberechtigten gegeben. In den Instanzgerichten hat sich durchgesetzt, dass in Fällen der "halben Vorfahrt" eine Mithaftung des Vorfahrtberechtigten von 25 % anzusetzen ist (vgl. KG Berlin zfs 2010, 198; LG Saarbrücken a.a.O.).
Besonders interessant dürfte die Geltendmachung einer Mithaftung des Vorfahrtberechtigten in den Fällen sein, in denen der Wartepflichtige seine Vollkaskoversicherung in Anspruch genommen hat. Regelmäßig wird eine Mithaftung des Unfallgegners von 25 % dazu führen, dass die quotenbevorrechtigten Schadenspositionen (Selbstbeteiligung, Wertminderung etc.) aufgrund des Quotenvorrechts des VN in voller Höhe zu erstatten sind.