[…] II. Das nach § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 OWiG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsmittel hat bereits (vorläufig) Erfolg, soweit es mit der auf die Verletzung des fair-trial-Grundsatzes gestützten Verfahrensrüge geltend macht, dem Antrag des Betroffenen auf Überlassung der mit seiner Messung in Zusammenhang stehenden "Messreihe" sei nicht entsprochen und damit seine Verteidigung unzulässig beschränkt worden (§ 338 Nr. 8 StPO). Die Verfahrensrüge, mit der der Betroffene eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) beanstandet, greift vorliegend durch und führt zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidung. Einer Erörterung der weiteren Verfahrens- und Sachrügen bedarf es daher nicht.
1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Nach Erlass des Bußgeldbescheids gegen den Betroffenen beantragte seine Verteidigerin am 11.5.2020 bei der Verwaltungsbehörde u.a. die Einsicht in die digitalen Falldatensätze der gesamten Messreihe. Dies lehnte die Verwaltungsbehörde mit Schreiben vom 15.5.2020 ab. Nachdem sich die Verteidigerin am 18.5.2020 mit einem solchen Antrag auch an das mit der Sache bereits befasste Amtsgericht gewandt hatte, wies dieses mit Beschl. v. 15.6.2020 den Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet ab, da der Betroffene darauf keinen Anspruch habe. Im Hauptverhandlungstermin vom 20.7.2020 beantragte der in Untervollmacht anwesende Verteidiger des Betroffenen erneut u a., die digitalen Falldatensätze der gesamten Messreihe mit Statistikdateien durch die Verwaltungsbehörde zur Verfügung stellen zu lassen und die Hauptverhandlung auszusetzen. Weder in der Hauptverhandlung am 20.7.2020 noch in der am 3. oder am 10.8.2020 wurde dieser Antrag beschieden. Um auszuführen, was sich aus den beantragten Messunterlagen ergeben hätte und für den Betroffenen geltend gemacht worden wäre, versuchte die Verteidigerin mit Schriftsatz vom 16.10.2020 nochmals, über die Verwaltungsbehörde Einsicht in die fehlenden Unterlagen zu erhalten, was nicht gelang.
2. Die Rüge der Verletzung des fairen Verfahrens ist vorliegend erfolgreich. Die nicht gewährte Einsichtsmöglichkeit in die nicht bei den Akten befindliche gesamte Messreihe des Messtages an dem fraglichen Messort durch das Amtsgericht ist basierend auf der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit dem Recht auf ein faires Verfahren nicht vereinbar (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18, Rn 51; Beschl. v. 4.5.2021 – 2 BvR 868/20, juris Rn 5; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.7.2019 – 1 Rb 10 Ss 291/19, juris Rn 28; OLG Jena, Beschl. v. 17.3.2021 – 1 OLG 331 SsBs 23/20, juris Rn 15 m.w.N.; OLG Stuttgart, Beschl. v. 3.8.2021 – 4Rb 12 Ss 1094/20).
Das Amtsgericht hat zu Unrecht den Antrag des Betroffenen auf Aussetzung der Hauptverhandlung und Verpflichtung der Verwaltungsbehörde zur Verfügungsstellung der Daten der gesamten Messreihe, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt, durch Beschluss zurückgewiesen bzw. in der Hauptverhandlung nicht mehr beschieden und damit die Verteidigung unzulässig gemäß § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO beschränkt.
Der Betroffene ist durch die Vorenthaltung der mit seiner verfahrensgegenständlichen Messung in Zusammenhang stehenden Messreihe in seinem Recht auf eine faire Verfahrensgestaltung (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) verletzt worden. Aus diesem Recht ergibt sich für den Betroffenen ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen zu dem ihn betreffenden Messvorgang. Das Recht gewährleistet es dem Betroffenen, prozessuale Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde selbstständig wahrzunehmen, um Übergriffe staatlicher Stellen angemessen abwehren zu können (vgl. BVerfG NVZ 2021, S. 43). Er darf nicht zum bloßen Objekt eines Verfahrens gemacht werden, sondern muss die Möglichkeit haben, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen (BVerfGE 65, 171-174). Dazu gehört das Recht auf möglichst frühen und umfassenden Zugang zu Ermittlungsvorgängen und Beweismitteln, die zum Zwecke der Untersuchung anlässlich des Verfahrens entstanden sind, jedoch nicht zur Akte genommen worden sind und deren Beiziehung unter Aufklärungsgesichtspunkten vom Tatgericht nicht für erforderlich erachtet wurde. Dabei kann der Betroffene eines Bußgeldverfahrens gegenüber der Verwaltungsbehörde auch ohne Vorliegen konkreter Anhaltspunkte für Messfehler verlangen, Einsicht in bei ihr existierende weitere Unterlagen zur eigenen Überprüfung der Messung zu erhalten, da er ohne diese nicht beurteilen kann, ob – gerade im standardisierten Messverfahren – Beweisanträge zu stellen sind. Dass nach Auffassung der Physikalisch-Technischen-Prüfbehörde der Erkenntniswert durch die Statistikdatei, die gesamte Messreihe sowie die Annullationsrate in der amtlichen Geschwindigkeitsüberwachung gering sei, (vgl. https://www.ptb.de/cms/fileadmin/internet/fa...