Liebe Leserinnen und Leser,
die Inflationsrate in Deutschland stieg ab Juli 2021 an und erreichte in den Jahren 2022 und 2023 ein Rekordniveau.
Alles wurde merklich teurer und das führte naturgemäß zu Unsicherheiten und Sorgen bei den Menschen.
Aber was ist eigentlich mit den Schmerzensgeldbeträgen, sollte hier nicht auch endlich einmal eine "merkliche Inflation" erfolgen?
Bekanntermaßen sind die Schmerzensgeldbeträge im internationalen Vergleich in Deutschland oft moderat.
In der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg waren die Schmerzensgeldbeträge relativ gering und orientierten sich oft an symbolischen Werten. Schmerzensgeld wurde in der Regel als "Wiedergutmachung" betrachtet, ohne die tatsächlichen Lebensumstände des Geschädigten umfassend zu berücksichtigen.
Mit der Wiederherstellung des deutschen Rechtssystems nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer ersten umfassenden Reform der Schmerzensgeldpraxis. Die Gerichte begannen, höhere Beträge zuzusprechen, insbesondere in Fällen schwerer Verletzungen.
Auch in der aktuellen Rechtsprechung sind die Schmerzensgeldbeträge in den vergangenen Jahren gestiegen. Dies ist teilweise auf die gestiegene Lebenserwartung und die damit einhergehende Berücksichtigung von Folgeschäden zurückzuführen. Zudem haben gesellschaftliche Veränderungen, wie eine verstärkte Wahrnehmung von psychischen Erkrankungen, dazu geführt, dass auch seelische Schäden stärker bewertet und berücksichtigt werden.
Trotz der positiven Entwicklungen gibt es nach wie vor Herausforderungen. Die Höhe der Schmerzensgeldbeträge variiert stark, und es besteht häufig Unsicherheit darüber, welche Beträge in vergleichbaren Fällen angemessen sind. Eine einheitliche Linie in der Rechtsprechung ist oft schwer zu erkennen, was zu Ungerechtigkeiten führen kann.
Auch ist es einer jungen Mandantin kaum zu erklären, dass sie aufgrund einer schweren Verletzung, die sie bei einem unverschuldeten Verkehrsunfall erlitten hat, wie einer inkompletten Querschnittslähmung, die zu einer erheblichen Ganginstabilität geführt hat und es ihr gerade einmal ermöglicht, circa 100 Meter ohne Hilfsmittel zu gehen, mit einer zusätzlich erlittenen Blasen- und Mastdarmentleerungsstörung, ggf. nicht einmal 250.000,00 EUR Schmerzensgeld zugesprochen erhält.
Denn was sind schon 250.000,00 EUR für eine solche schwerwiegende Verletzung?
Insbesondere, wenn man bedenkt, dass wir auf der anderen Seite nicht lange darüber diskutieren, dass der Wert eines bei einem Unfall total beschädigten, aber noch neuwertigen Pkws vom Schädiger bzw. seiner Haftpflichtversicherung ersetzt werden muss und dies bei einem Maserati MC 20, einem Porsche 911 GT3 oder einem Taycan Turbo GT durchaus 250.000,00 EUR und mehr sein können. Zugegebenermaßen sind das sehr hochwertige Fahrzeuge, die nicht in Massen auf den Straßen Deutschlands fahren. Aber sollte das menschliche Leben nicht auch hochwertig sein? Denn besinnen wir uns doch einmal darauf, dass unsere Gesundheit alles ist und alles andere nur Luxus.
Zurück zur Inflation: Unterstellt man langfristig einen zukünftigen moderaten Geldwertverlust von 2 % jährlich (Zielmarke der EZB) ergibt sich, dass z.B. ein 45-jähriger Verletzter, der nach der Bundessterbetafel noch 35 Jahre zu leben hat und ein Schmerzensgeld von 250.000,00 EUR erhält, dass dieses Schmerzensgeldkapital für den Rest seines Lebens durch 2 % jährlichen Geldwertverlust angegriffen wird und er deshalb insgesamt einen Wertverlust von 124.993,10 EUR erleidet. Am Lebensende verbleiben ihm somit nur ca. 125.006,90 EUR seines Schmerzensgeldes, selbst wenn er keinen Cent davon ausgegeben hätte.
Auch dieses erschreckende Zahlenwerk sollte man sich vor Augen führen.
Um also sicherzustellen, dass das Schmerzensgeld als Mittel zur gerechten Entschädigung für alle Betroffenen zugänglich bleibt, ist die fortlaufende Diskussion und Anpassung der Rechtsprechung unerlässlich, um den Ansprüchen einer sich verändernden Gesellschaft gerecht zu werden.
Ihnen wünsche ich zum Ende des Jahres möglichst keine Schmerzen, sondern eine gesunde und erholsame Weihnachtszeit und ein erfolgreiches Jahr 2025.
Autor: Heike Becker
RAin Heike Becker, FAin für Verkehrsrecht und für Familienrecht, Wipperfürth
zfs 12/2024, S. 661