BGB § 254 Abs. 1; StVG § 7 Abs. 1 § 17 Abs. 2; StVO § 10
Leitsatz
Das Befahren der linken Fahrbahn durch den am fließenden Verkehr teilnehmenden Fahrzeugführer beseitigt nicht die Verpflichtung des aus einem Grundstück auf die Fahrbahn Einfahrenden, dem fließenden Verkehr den Vorrang zu belassen und diesen nicht zu behindern.
BGH, Urt. v. 20.9.2011 – VI ZR 282/10
Sachverhalt
Die Kl. hat das beklagte Land aus einem Verkehrsunfall auf Ersatz der ihr daraus entstandenen Schäden in Anspruch genommen. Sie fuhr mit ihrem Pkw unter Inanspruchnahme der für sie linken Fahrbahnhälfte und stieß hierbei mit einem bei der Bekl. zu 2 versicherten VW-Bus, der von der Bekl. zu 1 gesteuert wurde, zusammen. Die Bekl. zu 1 fuhr mit dem Bus aus einem Behördengelände nach rechts in die von der Kl. benutzte Fahrbahn ein. In Höhe der aus der Sicht der Kl. links gelegenen Ausfahrt berührte der VW-Bus den Pkw der Kl. im Bereich des linken vorderen Kotflügels. Das beklagte Land zahlte unter Berücksichtigung einer Mithaftung der Kl. von 1/3 4.537,13 EUR an die Kl. Das LG ging von einer Haftungsquote der Kl. von 25 % aus. Das BG legte eine volle Haftung des beklagten Landes zugrunde und gab der Klage mit Ausnahme der geltend gemachten Kosten für die vorgerichtliche Tätigkeit des Prozessbevollmächtigten statt. Bei der Haftungsabwägung legte es zugrunde, das der Bekl. zu 1 bei der Ausfahrt aus dem Behördengrundstück den Vorrang der im fließenden Verkehr fahrenden Kl. nicht beachtet habe. Der Vorrang habe unabhängig davon fortbestanden, dass die Kl. unter Nichtbeachtung des Rechtsfahrgebots die für sie linke Fahrbahnhälfte benutzt habe. Das Rechtsfahrgebot diene nicht dem Schutz der seitlich einbiegenden Fahrzeuge; durch das Verkehrsverhalten der Kl. sei auch die bei der Haftungsabwägung zu berücksichtigende Betriebsgefahr ihres Fahrzeug nicht erhöht worden.
Der BGH bestätigte die Entscheidung des BG.
2 Aus den Gründen:
[7] “1. Das BG ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Bekl. zu 1, für dessen Haftpflicht das beklagte Land einzustehen hat, den Verkehrsunfall und den daraus entstandenen Schaden der Kl. schuldhaft dadurch verursacht hat; dass er unter Verletzung der gem. § 10 S. 1 StVO geforderten Sorgfalt von dem Behördenparkplatz kommend in die F.-Straße nach rechts einbog, ohne den entgegenkommenden Pkw der Kl. durchfahren zu lassen, die ihr Vorrecht nicht deshalb verloren hatte, weil sie über der Fahrbahnmitte fuhr (vgl. Senat, Urt. v. 13.11.1990 – VI ZR 15/90, VersR 1991, 352; BGH, Urt. v. 19.9.1974 – III ZR 73/72, VersR 1975, 37, 38 f.).
[8] a) § 10 S. 1 StVO legt dem aus einem Grundstück auf die Straße einfahrenden Fahrzeugführer gesteigerte Pflichten auf. Die Pflichten werden nicht dadurch gemindert, dass der Vorfahrtsberechtigte unter Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot die linke Straßenseite benutzt. Das Vorfahrtsrecht der auf der Straße fahrenden Fahrzeuge gegenüber einem auf eine Straße Einfahrenden gilt grds. für die gesamte Fahrbahn. Der aus einem Grundstück kommende Fahrzeugführer hat sich grds. darauf einzustellen, dass der ihm gegenüber Vorfahrtsberechtigte in diesem Sinne von seinem Recht Gebrauch macht (vgl. Senatsurt. v. 13.11.1990 – VI ZR 15/90, a.a.O.; v. 19.5.1981 – VI ZR 8/80, VersR 1981, 837; v. 11.1.1977 – VI ZR 268/74, VersR 1977, 524, 526; BGH, Urt. v. 19. September·1974 – III ZR 73/72, a.a.O. m.w.N.; OLG Bamberg, VersR 1987, 1137). Selbst das Befahren der linken Fahrbahn beseitigt nicht die Verpflichtung des Einfahrenden, dem fließenden Verkehr den Vorrang zu belassen und diesen nicht zu behindern (vgl. Henschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., § 10 StVO Rn 18).
[9] Die Verletzung des Vorfahrtsrechts durch den in die Straße Einfahrenden indiziert sein Verschulden (vgl. Senatsurt. v. 13.11.1990 – VI ZR 15/90 und BGH, Urt. v. 19.9.1974 – III ZR 73/72 jeweils a.a.O.). Wahrt der Einfahrende das Vorfahrtsrecht des fließenden Verkehrs nicht und kommt es deshalb zu einem Unfall, hat er in der Regel, wenn keine Besonderheiten vorliegen, in vollem Umfang oder doch zum größten Teil für die Unfallfolgen zu haften (Senatsurt. v. 13.11.1990 – VI ZR 15/90, a.a.O.; OLG Karlsruhe, VersR 1977, 673; OLG Frankfurt am Main, VersR 1994, 1203, 1204 mit Nichtannahmebeschl. des erkennenden Senats vom 15.3.1994 – VI ZR 220/93 und·OLG Celle, NJW-RR 2003, 1536, 1537; vgl. Grüneberg, Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen, 11. Aufl. Rn 68; Nugel, DAR 2009, 346, 350). Demgegenüber darf der sich im fließenden Verkehr bewegende Vorfahrtsberechtigte, sofern nicht Anzeichen für eine bestehende Vorfahrtsverletzung sprechen, darauf vertrauen, dass der Einbiegende sein Vorrecht beachten werde (vgl. Senatsurt. v. 25.3.2003 – VI ZR 161/02, VersR 2003, 783, 785; BGH, Urt. v. 19.9.1974 – III ZR 73/72, a.a.O.).
[10] b) Nach diesem im Straßenverkehr allgemein geltenden Vertrauensgrundsatz konnte die Kl. sich grds. darauf verlassen, dass der Fahrer des VW-Busses ihr Vorfahrtsrecht beachten und sie vorbeilassen würde, ehe, er in die F.-Straße einbiegen würde (vgl. BGH, Beschl. v. 12.7.19...