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Der Beitrag ist die gekürzte Wiedergabe des gleichnamigen Vortrags, der auf dem 1. Verkehrsrechtssymposium der Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht des DAV am 15.10.2016 in Mainz gehalten wurde. Über eine rechtsgutsorientierte Auslegung werden Argumentationslinien aufgezeigt, anhand derer die Reichweite, das Pflichtenprogramm und die Strafzumessung bei der Unfallflucht (§ 142 StGB) näher bestimmt werden können.
A. Vorbemerkung
Der Tatbestand des Unerlaubten (Sich-)Entfernens vom Unfallort (§ 142 StGB) ist seit seiner Neufassung im Jahr 1975 – sieht man von der Einführung der tätigen Reue in Abs. 4 ab – nicht geändert worden. Dennoch bereitet die Vorschrift in der Praxis immer noch beachtliche Anwendungsschwierigkeiten. Dies zeigt bereits die Statistik.
Im Jahr 2014 sind zu § 142 StGB fast 38.000 Aburteilungen nach allgemeinem Strafrecht statistisch erfasst. Bezogen auf alle in diesem Jahr abgeurteilten Verkehrsstraftaten entspricht das einem Anteil von 22 %. Einen vergleichbaren Anteil hat z.B. das Fahren ohne Fahrerlaubnis nach § 21 StVG. Blickt man nun aber auf die Anzahl der Verurteilungen nach § 142 StGB, so bleibt diese mit knapp 28.500 deutlich hinter den Aburteilungen zurück. Anders ausgedrückt: Die Verurteilungsquote liegt bei der Unfallflucht nur bei 76 %. Zum Vergleich: Bei § 21 StVG liegt sie bei 92 %, bei der – was die Feststellungen betrifft – komplexeren Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c StGB) zeigt die Statistik immerhin noch eine Quote von 89 %. Die deutlich geringere Verurteilungsquote bei § 142 StGB korrespondiert mit einer hohen Zahl an gerichtlichen Einstellungen. Mit 7.819 Einstellungen im Jahr 2014 sind das bezogen auf alle Aburteilungen wegen Unfallflucht 20,6 %. Zum Vergleich: Bei § 315c StGB beträgt der Anteil 8,6 %, bei § 21 StVG sind es 7,8 %.
Diese hohe Einstellungsquote mag in der Praxis auch darauf zurückzuführen sein, dass sich die erforderlichen Feststellungen (etwa zu der Frage, ob der Unfallbeteiligte den Unfall überhaupt bemerkt hat) nur mit erheblichem Aufwand treffen lassen, so dass gerade bei Unfällen mit geringerem Schaden einer Einstellung zugestimmt wird. Vielfach dürfte eine Einstellung aber auch damit zusammenhängen, dass im konkreten Fall fraglich ist, ob der Fall überhaupt von § 142 StGB erfasst ist bzw. ob der Unfallbeteiligte nicht doch die erforderlichen Pflichten erfüllt hat. Aus Sicht der Verteidigung ist eine konfrontative Argumentation im Grenzbereich des § 142 StGB schwierig: Denn nicht selten schwingt in der Anklage wegen Unfallflucht unausgesprochen auch der Verdacht einer vom Mandanten zugleich verdeckten Trunkenheitsfahrt mit, die dann zu einer weiten Auslegung der Vorschrift des § 142 StGB auf Seiten der Strafverfolgungsbehörden führt. Lässt die Verteidigung sich nun auf einen konfrontativen Disput über die Strafbarkeit ein oder wählt sie doch besser den Weg der Einstellung? Nachfolgend wird versucht, einige typische Grenzbereiche bei § 142 StGB zu umschreiben und Argumente aufzuzeigen, mit denen das Gericht von einer sachgerechten, strafbegrenzenden Auslegung überzeugt werden kann.
Beschränkt man sich dabei auf die praktisch bedeutsameren Fragestellungen, so lassen sich fünf Bereiche ausmachen: 1. Der Unfall im Straßenverkehr (Stichwort: Unfall mit dem Einkaufswagen); 2. Die Reichweite der Unfallbeteiligung; 3. Der Umfang der am Unfallort zu erfüllenden Pflichten (Wann ist die Alkoholisierung des Unfallbeteiligten feststellungsrelevant? Welche Wartezeit ist angemessen?); 4. Die Strafzumessung (Ist das hilflose Zurücklassen des Unfallopfers strafschärfend zu berücksichtigen?); 5. Der Fahrerlaubnisentzug (Welche Aspekte widerlegen die Indizwirkung des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB?).
B. Zum Schutzgut des § 142 StGB
Blickt man nun zu diesen Fragen in die Rechtsprechung oder die Kommentarliteratur, so finden sich recht unterschiedliche oder eher vage Antworten. Dies beruht nicht entscheidend darauf, dass das Gesetz bei der Bestimmung der Verhaltenspflichten zum Teil unbestimmte Rech...