StVG § 7 § 17 Abs. 1 2; StVO § 5 § 6 S. 2; VVG § 115 Abs. 1 Nr. 1
Leitsatz
1. Muss ein Fahrzeugführer zum Vorbeifahren an einem rechts parkenden Fahrzeug ausscheren, treffen ihn die Pflichten aus § 6 S. 2 StVO: Er muss auf den nachfolgenden Verkehr achten und das Ausscheren und das Widereinordnen durch Setzen des Blinkers ankündigen.
2. Hält ein Kraftfahrzeugführer an einer Engstelle an, um den Gegenverkehr passieren zu lassen und fährt ein anderer Fahrzeugführer an dem haltenden Fahrzeug vorbei, liegt ein Überholen i.S.d. § 5 StVO vor.
3. Hält das vorausfahrende Fahrzeug an einer Engstelle an, um den Gegenverkehr passieren zu lassen, besteht für folgende Fahrzeuge ein Überholverbot wegen unklarer Verkehrslage (§ 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO).
4. Bei der Abwägung der Haftung bei einer Kollision des vorausfahrenden, wegen Gegenverkehrs angehaltenen Fahrzeugs unter Missachtung der Sorgfaltsanforderungen des § 6 S. 2 StVO mit dem Verstoß des folgenden Fahrzeugs gegen das Überholverbot, fällt dem überholenden Fahrzeugführer eine überwiegende Unfallverursachung zur Last, so dass ihm ein Haftungsanteil von 2/3, dem verkehrsbedingt anhaltenden Fahrzeugführer von 1/3 zuzuerkennen ist.
(Leitsätze der Schriftleitung)
LG Saarbrücken, Urt. v. 13.12.2013 – 13 S 137/13
Sachverhalt
Der Kl. befuhr mit seinem Kfz eine Tempo-30-Zone. Wegen eines rechts parkenden Fahrzeugs hielt er an, um den Gegenverkehr passieren zu lassen. Als er wieder anfuhr, kollidierte er mit der Bekl. zu 2), die bei der Bekl. zu 1) haftpflichtversichert ist, die mit ihrem Mofa an dem Pkw des Kl. vorbei fahren wollte. Der Kl. hat die Verurteilung der Bekl. zum vollen Ersatz seiner unfallbedingten Schäden verurteilt. Die Bekl. haben ihre Haftung für ausgeschlossen gehalten, weil für sie nicht erkennbar gewesen sei, dass der Pkw des Kl. nicht geparkt habe, sondern den Gegenverkehr habe passieren lassen. Das AG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Kl. führte zur Annahme einer Haftung der Bekl. von 2/3 für die Schäden des Kl.
2 Aus den Gründen:
" … Die zulässige Berufung des Kl. ist überwiegend begründet."
1. Zu Recht und von der Berufung nicht angegriffen ist das Erstgericht allerdings zunächst davon ausgegangen, dass sowohl die Bekl. als auch der Kl. grds. für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gem. §§ 7, 17 Abs. 1, 2 StVG i.V.m. § 115 VVG einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kfz entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG darstellte.
2. Zutreffend hat der Erstrichter auch ein Verschulden des Kl. am Zustandekommen des Unfalls festgestellt.
a) Dem Kl. kann indes weder ein Verstoß gegen die Pflichten beim Anfahren vom Fahrbahnrand (§ 10 StVO) noch gegen die Pflichten beim Wechsel eines Fahrstreifens (§ 7 Abs. 5 StVO) vorgehalten werden.
aa) Nach den unstreitigen Feststellungen des Erstrichters, wie sie sich aus dem Urteilstatbestand ergeben (§ 314 ZPO), ist davon auszugehen, dass der Kl. seinen Pkw angehalten hat, um den Gegenverkehr passieren zu lassen. Damit war der Kl. aber noch Teil des fließenden Verkehrs und hatte mithin nicht die besonderen Pflichten des § 10 StVO zu beachten (vgl. hierzu Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 42. Aufl., § 10 StVO Rn 7; Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 22. Aufl., § 10 StVO Rn 12, jeweils m.w.N.).
bb) Auch ein Verstoß gegen die Pflichten beim Wechsel eines Fahrstreifens (§ 7 Abs. 5 StVO) liegt nicht vor. Nach § 7 Abs. 1 S. 2 StVO handelt es sich bei einem Fahrstreifen um den Teil einer Fahrbahn, den ein mehrspuriges Fahrzeug zum ungehinderten Fahren im Verlauf der Fahrbahn benötigt. Dies zugrunde gelegt hat der Kl. hier keinen Fahrstreifenwechsel durchgeführt. Denn es kann schon nicht davon ausgegangen werden, dass an der Unfallstelle mehrere Fahrstreifen für den gleichgerichteten Verkehr zur Verfügung standen (vgl. hierzu OLG Hamm OLG-Report 2005, 262; OLG Brandenburg NJW 2009, 2962; Geigel/Zieres, a.a.O. Kap. 27 Rn 207, 216).
b) Der Kl. hat jedoch gegen die Pflichten beim Vorbeifahren verstoßen. Muss ein Fahrzeugführer – wie hier – zum Vorbeifahren an einem rechts parkenden Fahrzeug ausscheren, treffen ihn die Pflichten aus § 6 S. 2 StVO (vgl. hierzu OLG Hamm OLG-Report 2005, 262; Hentschel, a.a.O. § 6 StVO Rn 4; Geigel/Zieres, Der Haftpflichtprozess, 26. Aufl., Kap. 27, Rn 197). Der Kl. hatte mithin auf den nachfolgenden Verkehr zu achten und das Ausscheren sowie das Wiedereinordnen – wie beim Überholen – anzukündigen. Dass der Kl. dem nicht nachgekommen ist, hat er in seiner informatorischen Anhörung vor dem Erstgericht selbst eingeräumt. Damit hat er auch den Unfall verursacht. Denn der Kl. hätte die Zweitbeklagte in der Annäherung erkennen, deren weiteres Fahrverhalten beobachten und damit unfallvermeidend reagieren können, wenn er den rückwärtigen Verkehr – wie geboten – hinreichend beobachtet hätte. Auf die Frage, ob im Rahmen des § 6 S. 2 StVO gegen den Vorbeifahrenden ein A...