1. Der Sorgfaltsgrund, den der Ein- und Aussteigende gem. § 14 StVO einzuhalten hat, weist die Verantwortung für die fehlende Gefährdung – nicht zwingend dagegen für die Behinderung anderer Verkehrsteilnehmer – dem Ein- und Aussteigenden zu (vgl. OLG Hamburg DAR 2000, 64; König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl., § 14 StVO Rn 9). Daraus folgt ein gegen den Ein- und Aussteigenden sprechender Beweis des ersten Anscheins für eine fahrlässige Sorgfaltspflichtverletzung (vgl. BGH NJW 2009, 3791; KG NZV 2010, 343; vgl. auch Hentschel/König/Dauer, a.a.O.).
2. Entscheidend für die Zugrundelegung des Anscheinsbeweises ist der Zeitraum seiner Geltung. Plakativ lässt sich das dahin umschreiben, dass der Vorgang des Einsteigens erst mit dem Schließen der Fahrzeugtür, der Vorgang des Aussteigens erst mit dem Schließen der Fahrzeugtür und dem Verlassen der Fahrbahn beendet ist (vgl. BGH NJW 2009, 3791; KG NZV 2008, 245; Hentschel/König/Dauer, a.a.O., Rn 3). Das trägt dem Umstand Rechnung, dass die Gefahrsituation so lange andauert, wie die geöffnete Fahrzeugtür ein Hindernis in dem Bereich der Fahrbahn bildet.
3. Die Zuweisung der fast alleinigen Verantwortung des Ein- und Aussteigenden für die Gefahrfreiheit des von ihm beabsichtigten und gewählten Verkehrsvorgangs hat in der Rspr. zu einem ihm abverlangten Katalog von Verhaltensmaßnahmen geführt. Herzstück dieser Verhaltensmaßnahmen ist bei beabsichtigtem Öffnen der linken Wagentür die weit gefasste Rückschaupflicht (OLG Hamburg VRS 40, 60; vgl. auch BGH VRS 19, 104; BGH DAR 1981, 148). Ist eine verlässliche Rückschau auf rückwärtigen, sich nähernden Verkehr nicht möglich, darf die Fahrzeugtür nur spaltweise geöffnet werden (vgl. OLG Köln VM 92, 93; KG DAR 2006, 149). Die zeitliche Erstreckung des von § 14 StVO erfassten Ein- und Aussteigevorgangs durch die beabsichtigte und praktizierte Hilfe für einen Wageninsassen bei Ausstieg oder das Ein- und Ausladen von Gegenständen aus dem Fahrzeug vergrößert das Gefahrpotential (vgl. dazu BGH NJW 2009, 2791; OLG Braunschweig NZV 2008, 357) und begründet deshalb eine erneute Rückschaupflicht (vgl. Hentschel/König/Dauer, a.a.O. § 14 Rn 6). Es besteht in diesen Fällen die Gefahr, dass sich weiterer rückwärtiger Verkehr nähert, der bei der ersten Rückschau noch nicht sichtbar war.
Auch das beabsichtigte und durchgeführte Türöffnen nach rechts ist wegen der denkbaren Gefährdungen von Radfahrern auf einem rechts verlaufenden Radweg und von Fußgängern auf dem Gehweg Grundlage für vergleichbare mit dem Türöffnen nach links verbundene aus § 14 StVO folgende Sorgfaltspflichten (vgl. OLG Hamburg VM 70, 16).
4. Die Sorgfaltspflichten des Vorbeifahrenden werden aus § 1 Abs. 2 StVO hergeleitet. Im Mittelpunkt des Pflichtenkatalogs des Vorbeifahrenden steht die Pflicht zur Einhaltung eines eine Kollision vermeidenden Sicherheitsabstands, der sich "nach den Umständen" richtet (vgl. OLG Saarbrücken VRS 37, 374). Konkreter wird davon ausgegangen, dass ein Sicherheitsabstand von weniger als 50 cm als i.d.R. zu knapp bezeichnet wird (vgl. KG DAR 2006, 149; KG NZV 2009, 502). Bei dichtem Verkehr und vor allem geringer zur Verfügung stehender Straßenbreite (parkende Fahrzeuge!) kann allerdings ein Seitenabstand von 35 cm ausreichend sein (vgl. OLG Saarbrücken VM 73, 14). Führt ein zu geringer seitlicher Abstand des vorbeifahrenden Fahrzeugs zu einem geparkten Fahrzeug, dessen Tür unvorsichtig geöffnet wird, zu einer Kollision, ist im Allgemeinen von einer Mithaftung des Vorbeifahrenden von ½ auszugehen (BGH VersR 1956, 576; OLG Frankfurt NZV 2014, 454, 655).
Bei der Haftungsabwägung wiegt die Gefahr aus dem Einsteigen oder Aussteigen schwerer, wenn der Vorbeifahrende gegen eine bereits längere Zeit geöffnete Tür fährt (vgl. OLG Frankfurt a.a.O.). Hier gibt die Unaufmerksamkeit und fehlende Ausweichreaktion des Vorbeifahrenden dem Sachverhalt das Gepräge, was zu einer für den Vorbeifahrenden ungünstigeren Haftungsquote führen kann.
RiOLG a.D. Heinz Diehl
zfs 4/2015, S. 196 - 201