StVG §§ 17 Abs. 1, 18; StVO § 4 Abs. 1 § 9 Abs. 5
Leitsatz
1. Beim Auffahren eines nachfolgenden Fahrzeugs auf ein abbiegendes oder wendendes Fahrzeug ist die Annahme eines Anscheinsbeweises gegen den Abbiegenden/Wendenden nicht zu rechtfertigen.
2. Zum Begriff und Schutzzweck des Wendens i.S.d. § 9 Abs. 5 StVO.
OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.10.2015 – 1 U 46/15
Sachverhalt
Der Kl. hielt als Fahrer eines Lkw einen nicht ausreichenden Sicherheitsabstand zu dem vorausfahrenden Kfz des Bekl. zu 2) ein. Dieser beabsichtigte mit seinem Fahrzeug zu wenden und in ein in seiner Fahrtrichtung linksseitig gelegenes Gartengrundstück einzubiegen. Er reduzierte seine Geschwindigkeit und betätigte an der Mittellinie entlang fahrend den Fahrtrichtungsanzeiger. Als er mit dem Wenden ansetzte, prallte der Kl. mit der Front des von ihm gesteuerten Lkw aufgrund des unzureichenden Sicherheitsabstandes gegen das Heck des von dem Bekl. gesteuerten Pkw.
Das LG ging von einer Haftungsverteilung aus, wonach die Bekl. die Unfallschäden des Kl. im Umfang von 50 % zu ersetzen haben. Mit der Berufung verfolgen die Bekl. die vollständige Klageabweisung.
Die Berufung hatte keinen Erfolg.
2 Aus den Gründen:
" … Nach den insoweit nicht angefochtenen Ausführungen in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils steht darüber hinaus fest, dass der Zeuge … als Fahrer des Lastkraftwagens der Kl. durch die Nichteinhaltung des gem. § 4 Abs. 1 S. 1 StVO vorgeschriebenen Mindestabstandes ebenfalls schuldhaft zu der Entstehung des Auffahrunfalles beigetragen hat. Dieses Auffahrverschulden rechtfertigt jedoch weder die seitens der Bekl. beantragte vollständige Abweisung, noch gibt sie Anlass, die durch das LG ausgesprochene Haftungsverteilung zugunsten der Bekl. zu verschieben. Es steht außer Zweifel, dass die Bekl. jedenfalls im Umfang der Hälfte der unfallbedingten Vermögenseinbußen der Kl. ersatzpflichtig sind. …"
5 a) Bei einer Kollision des wendenden mit einem im fließenden Verkehr befindlichen Kfz spricht der Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden des Wendenden (Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 23. Aufl., § 9 StVO Rn 59 mit Hinweis auf BGH DAR 1985, 316). Andererseits ist es nach der Lebenserfahrung wahrscheinlich, dass ein Auffahrunfall auf einem Verschulden des Auffahrenden, insb. auf einem zu geringen Abstand oder auf einer unangepassten Geschwindigkeit, beruht (Burmann/Heß/Jahnke/Janker, a.a.O., § 4 StVO Rn 24 mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen). Für die Feststellung eines Auffahrverschuldens des Zeugen J bedarf es indes nicht der Heranziehung der Grundsätze über den Anscheinsbeweis, weil es nach den insoweit nicht angefochtenen Ausführungen des LG feststeht. Auch lässt sich, wie nachfolgend unter Ziffer 6 dargelegt, ein Wendeverschulden bereits sicher aus den eigenen Angaben des Bekl. zu 2. ableiten.
b) Das LG Saarbrücken hat allerdings angenommen, dass gegen den in eine Grundstückseinfahrt Abbiegenden aufgrund der gesteigerten Sorgfaltspflicht des § 9 Abs. 5 StVO ein Anscheinsbeweis spreche, wenn es bei diesem Vorgang zu einer Kollision mit dem nachfolgenden Verkehr komme; dann habe der Abbiegende typischerweise gegen die ihm obliegende Pflicht, die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen, verstoßen (LG Saarbrücken, Urt. v. 24.1.2014 – 13 S 168/13, BeckRS 2014, 03682)
c) Dem folgt der Senat bezogen auf die vorliegende Fallkonstellation nicht. Zwar ist der durch das LG Saarbrücken entschiedene Streitfall insofern mit dem vorliegenden Fall vergleichbar, als auch der Bekl. zu 2. bei dem beabsichtigten Wendemanöver den strengen Sorgfaltsanforderungen des § 9 Abs. 5 StVO unterworfen war. Für die hiesige Konstellation des Auffahrunfalls eines nachfolgenden Fahrzeugs auf den Abbieger ist die Annahme eines Anscheinsbeweises gegen den Abbiegenden aber nicht zu rechtfertigen.
aa) Die Anwendung des Anscheinsbeweises für ein Verschulden setzt bei Verkehrsunfällen Geschehensabläufe voraus, bei denen sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung der Schluss aufdrängt, dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt und dadurch den Unfall verursacht hat; es muss sich um Tatbestände handeln, für die nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch ist (BGH, Urt. v. 13.12.2011 – VI ZR 177/10, r+s 2012, 96). Wenn ein nachfolgendes Fahrzeug auf einen Abbieger – insb. auf einen wendenden Abbieger – auffährt, ist ein solcher Tatbestand indes nicht gegeben.
bb) Denn nach Auffassung des Senats lässt die Lebenserfahrung in diesen Fällen nicht typischerweise den Schluss auf eine Pflichtverletzung des (wendenden) Abbiegenden zu (Senat, Urt. v. 23.6.2015 – 1 U 107/14, r+s 2015, 414). Zwar ist dieser nach § 9 Abs. 1 S. 1 StVO gehalten, seine Abbiege- und Wendeabsicht rechtzeitig und deutlich anzukündigen und dabei auch den Fahrtrichtungsanzeiger zu benutzen. Er muss sich auf der Fahrbahn nach links einordnen und erforderlichenfalls auch seine Geschwindigkeit behutsam verringern. Er ist überdies verpflichtet...