StVO § 35a Abs. 5 § 38 Abs. 1 S. 2
Leitsatz
1. Andere Verkehrsteilnehmer sind gegenüber mit Blaulicht und Einsatzhorn fahrenden Noteinsatzfahrzeugen verpflichtet, für deren Durchfahrt freie Bahn zu schaffen.
2. Fahrzeuge des Rettungsdienstes sind von der Einhaltung der Vorschriften der StVO befreit, wenn höchste Eile geboten ist, um Menschenleben zu retten oder schwere gesundheitliche Schäden abzuwenden, wobei maßgeblich der Einsatzbefehl für den Fahrer des Einsatzfahrzeuges ist.
3. Der Fahrer eines Einsatzfahrzeuges mit eingeschaltetem Blaulicht und Martinshorn darf nur dann darauf vertrauen, dass ihm die übrigen Verkehrsteilnehmer freie Bahn verschaffen werden, wenn er nach den Umständen annehmen darf, dass ihn alle anderen Verkehrsteilnehmer wahrgenommen und sich auf das Einsatzfahrzeug eingestellt haben.
(Leitsätze der Schriftleitung)
LG Saarbrücken, Urt. v. 1.7.2011 – 13 S 61/11
Sachverhalt
Der klagende Verein begehrt restlichen Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall, der sich am 9.8.2009 in … ereignet hat.
Die Erstbekl. befuhr mit ihrem Fahrzeug, das bei der Zweitbeklagten haftpflichtversichert ist, die … und wollte nach links in die … abbiegen. Sie hatte den linken Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt und hielt das Fahrzeug vor dem Abbiegen an.
Zur selben Zeit befuhr der Zeuge … mit einem Notarzteinsatzfahrzeug des Kl., an dem Blaulicht und Martinshorn eingeschaltet waren, die … in gleicher Fahrtrichtung und näherte sich von hinten dem stehenden Fahrzeug der Erstbekl. Im Notarzteinsatzfahrzeug befand sich als Notarzt der Zeuge … In der Folge bog die Erstbekl. nach links ab und stieß dabei mit dem sie überholenden Einsatzfahrzeug zusammen.
Die Zweitbeklagte hat den Schaden des Kl. auf der Grundlage einer Haftungsquote von 1/3 zu 2/3 zu Lasten der Bekl. reguliert. Mit seiner Klage verfolgt der Kl. den nicht regulierten Schaden.
Der Kl. hat die Auffassung vertreten, dass die Erstbekl. § 38 Abs. 1 StVO verletzt habe. Darüber hinaus habe sie gegen die doppelte Rückschaupflicht und die Pflicht, sich möglichst weit links einzuordnen, verstoßen. Demgegenüber habe der Zeuge … davon ausgehen dürfen, dass die Erstbekl. ihm freie Bahn verschaffen würde. Das rechtfertige die Alleinhaftung der Bekl.
Die Bekl. haben eingewandt, es sei nicht vorgetragen, dass tatsächlich höchste Eile geboten gewesen sei, um Sonderrechte in Anspruch zu nehmen. Der Zeuge … hätte auch, da die Erstbekl. den linken Blinker gesetzt und sich zur Fahrbahnmitte eingeordnet habe, damit rechnen müssen, nicht wahrgenommen worden zu sein. Es sei deshalb von einer unklaren Verkehrslage i.S.d. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO auszugehen. Daraus ergebe sich eine Mithaftung des Kl. von jedenfalls 1/3.
Das AG hat die Zeugen … und … zum Unfallgeschehen vernommen und die Erstbekl. informatorisch angehört. Danach hat es der Klage in der Hauptsache stattgegeben. Die Erstbekl. habe gegen §§ 38 Abs. 1, 9 Abs. 4 StVO verstoßen. Nach der Beweisaufnahme stehe fest, dass das klägerische Fahrzeug zum Kreis der Sonderrechtsträger nach § 35 Abs. 1 StVO gehört habe. Den Insassen des Rettungsfahrzeuges sei nämlich von der Rettungsleitstelle Saarland mitgeteilt worden, dass ein medizinischer Notfall vorliege mit Verdacht auf Herzinfarkt, weshalb der Fahrer des Rettungsfahrzeuges zu Recht beide Sondersignale eingesetzt habe. Die Erstbekl. habe darüber hinaus ihrer Verpflichtung zur zweiten Rückschau nicht genügt, da sie – wie sie selbst eingeräumt habe – ihre Aufmerksamkeit auf den Gegenverkehr gerichtet und das Sonderrechtsfahrzeug weder gesehen noch gehört habe. Dem gegenüber habe sich der Fahrer des Rettungsfahrzeuges darauf verlassen dürfen, dass die Erstbekl., die angehalten habe, ihn wahrgenommen hatte. Das Maß der Unfallverursachung sei insofern auf der Beklagtenseite so groß, dass die von dem Kl. zu verantwortende Mitverursachung nicht ins Gewicht falle.
Mit ihrer Berufung verfolgen die Bekl. weiter die Abweisung der Klage. Sie rügen eine fehlerhafte Rechtsanwendung des AG. Die Erstrichterin sei schon von einer falschen Anspruchsgrundlage ausgegangen, da nicht § 3 Nr. 1 PflVG a.F., sondern § 115 VVG für den Streitfall maßgeblich sei. Darüber hinaus habe die Erstrichterin zu Unrecht die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Wegerechts nach § 38 Abs. 1 StVO bejaht. Es sei weder vorgetragen noch bewiesen worden, dass höchste Eile geboten gewesen sei, um Menschenleben zu retten oder schwere gesundheitliche Schäden abzuwenden. Im Übrigen müsse sich der Kl. selbst dann eine Mithaftung von 1/3 anrechnen lassen, wenn er sich zu Recht auf § 38 Abs. 1 StVO berufen könne. Bei einer nachgewiesenen Geschwindigkeit des Einsatzwagens innerorts zwischen 70 und 80 km/h sei die Betriebsgefahr so massiv erhöht, dass eine Mithaftung von 1/3 gerechtfertigt sei. Es greife aber auch eine Verschuldensmithaftung auf Klägerseite. Ausgehend davon, dass das Beklagtenfahrzeug mit eingeschaltetem linken Fahrtrichtungsanzeiger an der Fahrbahnmittelinie gestanden habe, habe sich der Fahrer des Einsatzwagens nicht darauf verlassen dürfen...