Rechtlich besondere Schwierigkeiten werfen immer wieder Konstellationen auf, in denen beide Verkehrsteilnehmer für sich in Anspruch nehmen, dass gegen den jeweils anderen ein Anscheinsbeweis sprechen würde. Mit diesen soll sich im Folgenden auseinandergesetzt werden.
I. Auffahrunfall und Fahrstreifenwechsel
Die häufigste Konstellation, in der sich zwei Verkehrsteilnehmer jeweilig auf einen Anscheinsbeweis zu Lasten des Unfallgegners berufen, ist diejenige des Auffahrenden gegen den Fahrstreifenwechsler. Bei einem Auffahrunfall, dem ein Fahrstreifenwechsel des Vordermanns und anschließendes Bremsen vorausgeht, ist die Ansicht weit verbreitet, dass zunächst gegen den Auffahrenden der Beweis des ersten Anscheins spreche. Dieser Beweis des ersten Anscheins soll erst durch den Nachweis eines im engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang stehenden Fahrspurwechsels des Vorausfahrenden widerlegt sein. Erst dann soll sich der Anscheinsbeweis umkehren zu Lasten desjenigen, der den Fahrstreifen gewechselt hat.
Dies halte ich jedoch für falsch. Denn der Anscheinsbeweis zu Lasten des Auffahrenden setzt ja gerade voraus, dass dieser die Möglichkeit hatte, sich durch seine Fahrweise auf das davor fahrende Fahrzeug einzustellen. Es muss also für die Anwendung des Anscheinsbeweises zu Lasten des Auffahrenden feststehen, dass das davor fahrende Fahrzeug so lange vor dem Auffahrenden her gefahren ist, dass der Auffahrende sich hierauf einstellen konnte. Ist dies jedoch nicht erwiesen, so existiert eben keine Lebenserfahrung, die dafür spricht, dass der Auffahrende sich schuldhaft verhalten hat. Kann also derjenige, auf den das Fahrzeug aufgefahren ist, nicht beweisen, dass er sich bereits längere Zeit vor diesem befunden hat, so wird er sich nicht auf den Anscheinsbeweis berufen können. Beruft sich damit der Auffahrende auf einen vorangegangenen Fahrstreifenwechsel desjenigen, auf den er aufgefahren ist, ist zu seinen Lasten der Anscheinsbeweis nicht anzuwenden, solange nicht feststeht, dass er genügend Zeit hatte, sich auf das davor fahrende Fahrzeug einzustellen.
Lässt sich diesbezüglich nichts aufklären, wird es zu einer Haftungsverteilung unter Berücksichtigung der jeweiligen Betriebsgefahren kommen müssen.
II. Auffahren und Verletzung der Wartepflicht
Auch berufen sich Unfallgegner nicht selten jeweilig auf einen Anscheinsbeweis zu Lasten des Unfallgegners, wenn ein Vorfahrtsberechtigter auf ein anderes Fahrzeug auffährt, welches sich zuvor aus einer wartepflichtigen Straße auf die Vorfahrtsstraße begeben hat. Derjenige, der beispielsweise nach rechts auf eine Vorfahrtsstraße aufgefahren ist, wird sich im Moment des Auffahrens des Vorfahrtsberechtigten darauf berufen, dass er sich bereits vollumfänglich in den fließenden Verkehr hinein bewegt hat und eine Wartepflichtverletzung nicht vorliegt, sondern ein alleiniger Auffahrunfall des Vorfahrtsberechtigten. Der Vorfahrtsberechtigte wiederum wird sich in einer solchen Konstellation darauf berufen, dass der Wartepflichtige sein Vorfahrtsrecht missachtet hat und er keine Gelegenheit mehr hatte, sich auf die Wartepflichtverletzung des Rechtsabbiegers einzustellen.
Im Regelfall werden sich solche Unfallkonstellationen außerhalb des eigentlichen Kreuzungs- oder Einmündungsvierecks ereignen. Darum spricht dann zumindest nicht der Anscheinsbeweis für eine Vorfahrtsverletzung im klassischen Sinne, welche oben angesprochen worden ist. Diesbezüglich ist dann jedoch z.B. der Rechtsprechung des Brandenburgischen OLG beizupflichten. Die Wartepflicht des § 8 Abs. 2 StVO gilt nämlich nicht nur für die eigentliche Kreuzungsfläche, sondern darüber hinaus bis zur vollständigen Einordnung des Wartepflichtigen auf der vorfahrtberechtigten Straße bzw. bis die auf der Vorfahrtsstraße allgemein eingehaltene Geschwindigkeit erreicht wird oder der Wartepflichtige sich bereits in stabiler Geradeausfahrt befindet.
Je näher sich das Auffahren zur entsprechenden Einmündung ereignet hat, desto eher ist dann von einer Vorfahrtsverletzung auszugehen. Die Frage, bis zu welcher Entfernung ein Anscheinsbeweis zu Lasten des Wartepflichtigen sprechen kann, hängt dann wiederum – ähnlich wie bei den Konstellationen des Einfahrens in den fließenden Verkehr – davon ab, wie hoch die zulässige Höchstgeschwindigkeit liegt. Im innerstädtischen Bereich wird man eine Entfernung von maximal 30 Metern annehmen können, da jedenfalls bei einer größeren Entfernung durchaus die ernsthafte Möglichkeit besteht, dass sich der Wartepflichtige bereits in den fließenden Verkehr eingeordnet hat, da wiederum eine solche Strecke ausreicht, um auf ortstypische Geschwindigkeit zu beschleunigen. Im außerörtlichen Bereich, wo höhere Geschwindigkeiten zulässig sind, wird die entsprechende Entfernung wiederum größer sein müssen. Im Ergebnis wird sich also der Vorfahrtsberechtigte auf einen Anscheinsbeweis zu Lasten des Wartepflichtigen berufen können, wenn feststeht, dass sich der Unfall in einer so geringen Entfernung von der Einmündung ereignet hat, dass der Wartepflichtige noch nicht auf die ortstypische Geschwindigkeit b...