Eine der häufigsten im Straßenverkehr streitigen Unfallkonstellationen ergibt sich, wenn ein Linksabbieger mit einem Überholenden kollidiert. Der Überholende behauptet regelmäßig in solchen Situationen, dass der Linksabbieger nicht geblinkt habe, sich nicht in Richtung der Fahrbahnmitte hin eingeordnet habe und auch nicht zuvor seine Geschwindigkeit reduziert habe. Der Linksabbieger wiederum behauptet in solchen Konstellationen, genau dies getan zu haben. Zudem hat er natürlich auch vor dem Absetzen zur Fahrbahnmitte hin den rückwärtigen Verkehr beachtet und natürlich vor dem Einschlagen des Lenkrades auch nochmals im Rahmen seiner sog. doppelten Rückschaupflicht einen Schulterblick durchgeführt. Trotzdem ist es sodann zur Kollision gekommen. Was gilt, wenn die jeweiligen Behauptungen nicht aufklärbar sind?
In der Rechtsprechung ist in einer solchen Konstellation sehr häufig nachzulesen, dass, wenn es im unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Linksabbiegen zu einer Kollision mit einem links überholenden Fahrzeug kommt, der Beweis des ersten Anscheins für eine Sorgfaltspflichtverletzung des Linksabbiegers spreche. Nicht überzeugend ist dies, wenn beispielsweise das Kammergericht Berlin diesen Anscheinsbeweis damit begründet, dass er "Folge der besonderen Gefährlichkeit des Linksabbiegens" sei. Insoweit ist es zumindest nicht nachvollziehbar, warum ein Linksabbiegen gefährlicher sein soll als ein Überholen. Dagegen spricht nämlich, dass das Überholen grundsätzlich mit einer höheren Geschwindigkeit einhergeht und damit per se gefährlich erscheint. So hat beispielsweise das OLG Dresden bei einer Haftungsabwägung der Betriebsgefahren zwischen einem Überholenden und einem Überholten, bei welchen ein Verschulden jeweils nicht feststellbar war, die Betriebsgefahr des Überholenden mit 65 % gegenüber 35 % des Überholten bewertet, da es sich bei dem Überholvorgang um einen besonders gefährlichen Verkehrsvorgang handeln würde.
Trotzdem bin auch ich der Auffassung, dass – wenn in einer solchen Konstellation weitere Aufklärungen nicht möglich sind – der Anscheinsbeweis zu Lasten des Linksabbiegers spricht. Diesbezüglich meine ich, dass in einer solchen Konstellation ein allgemeiner Erfahrungssatz dahingehend spricht, dass jedenfalls der Linksabbieger im Moment des Einschlagens des Lenkrads zuvor eben nicht noch einmal den rückwärtigen Verkehr beobachtet und insbesondere einen Schulterblick durchgeführt hat, da er dann ansonsten den Überholenden hätte wahrnehmen und das Einschlagen des Lenkrads hätte unterlassen können. Somit spricht in einer solchen Konstellation der Beweis des ersten Anscheins gegen den Linksabbieger dahingehend, dass er seiner doppelten Rückschaupflicht nicht nachgekommen ist.
Ist Weiteres nicht aufklärbar, so steht zu Lasten des Linksabbiegers das Verschulden fest, während zu Lasten des Überholenden lediglich die Betriebsgefahr mitwirkt und er angesichts des streitigen Sachverhalts auch nicht seine Unvermeidbarkeit beweisen können wird. Da es sich bei dem Überholvorgang mit obiger Entscheidung des OLG Dresden um einen besonders gefährlichen Fahrvorgang handelt, bin ich auch in einer solchen Konstellation der Auffassung, dass hinter dem Verschulden des Linksabbiegers die Betriebsgefahr regelmäßig nicht zurücktreten wird. Anders kann dies meines Erachtens aussehen, wenn der Linksabbieger nicht in eine Einmündung, sondern in ein Grundstück abzubiegen beabsichtigte. Hier trifft den Linksabbieger über die allgemeinen Sorgfaltspflichten des § 9 Abs. 1 StVO hinaus die besondere Sorgfaltspflicht des § 9 Abs. 5 StVO. Das Abbiegen in ein Grundstück ist gefährlicher als das Linksabbiegen in eine Einmündung, da der nachfolgende Verkehr weniger damit rechnet. Dann kann das Verschulden so überwiegend sein, dass dahinter die Betriebsgefahr des Überholenden zurücktritt.
Kein Anscheinsbeweis spricht jedoch zu Lasten des Überholenden.