PflVG § 12; StVG § 17; ZPO § 286
Leitsatz
1. Bei Auffahrunfällen kann, auch wenn sie sich auf Autobahnen ereignen, der erste Anschein dafür sprechen, dass der Auffahrende den Unfall schuldhaft dadurch verursacht hat, dass er entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat (§ 4 Abs. 1 StVO), unaufmerksam war (§ 1 StVO) oder mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist (§ 3 Abs. 1 StVO) (Fortführung von Senat BGHZ 192, 84 = VersR 2012, 248 Rn 7).
2. Der Auffahrunfall reicht als solcher als Grundlage eines Anscheinsbeweises aber dann nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die – wie etwa ein vor dem Auffahren vorgenommener Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs – als Besonderheit gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen (Fortführung Senat BGHZ 192, 84 = VersR 2012, 248 Rn 7).
3. Bestreitet der Vorausfahrende den vom Auffahrenden behaupteten Spurwechsel und kann der Auffahrende den Spurwechsel des Vorausfahrenden nicht beweisen, so bleibt – in Abwesenheit weiterer festgestellter Umstände des Gesamtgeschehens – allein der Auffahrunfall, der typischerweise auf einem Verschulden des Auffahrenden beruht. Es ist nicht Aufgabe des sich auf den Anscheinsbeweis stützenden Vorausfahrenden zu beweisen, dass ein Spurwechsel nicht stattgefunden hat.
BGH, Urt. v. 13.12.2016 – VI ZR 32/16
Sachverhalt
Die Kl. nimmt den beklagten Entschädigungsfonds (§ 12 PflVG) auf den Ersatz materieller und immaterieller Schäden aus einem Auffahrunfall auf der BAB in Anspruch. Die Kl. wurde als Fahrerin ihres Motorrads in einen Verkehrsunfall mit einem Gespann, bestehend aus einem Kastenwagen mit Anhänger, verwickelt, wobei sie erhebliche Verletzungen erlitt. Fahrer und Halter des Gespanns konnten nicht ermittelt werden. Ursache und Hergang des Unfalls sind zwischen den Parteien streitig. Die Kl. hat behauptet, das auf der Überholspur befindliche Gespann sei unmittelbar vor der Kollision beider Fahrzeuge "brutal" abgebremst und auf die rechte Fahrspur gezogen worden, auf der sich die Kl. mit ihrem Motorrad befunden habe. Sie habe keine Möglichkeit gehabt dem Gespann auszuweichen, so dass sie auf dessen hintere Flanke gefahren sei. Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Kl. hatte keinen Erfolg. Die Revision blieb erfolglos. Der BGH billigte die Verneinung eines zugunsten der Kl. sprechenden Anscheinsbeweises für einen der Kl. zuzubilligenden Entschädigungsanspruch.
2 Aus den Gründen:
[5] "… I. Das BG hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen für einen Anspruch der Kl. gegen den Bekl. aus § 12 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 PflVG i.V.m. §§ 823 ff. BGB oder §§ 7 ff. StVG seien nicht gegeben. Zwar stehe nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme fest, dass es zu einer Kollision der Kl. mit dem unbekannt gebliebenen Gespann gekommen und die Kl. mithin bei und durch den Betrieb eines Kfz körperlich verletzt und ihre Bekleidung beschädigt worden sei. Auch sei die Haftung des Bekl. nicht im Hinblick auf § 7 Abs. 2 StVG ausgeschlossen. Die Kl. müsse sich nach § 17 Abs. 1 und Abs. 2 StVG auf die dem Grunde nach gegebene straßenverkehrsrechtliche Gefährdungshaftung aber einen so gewichtigen Eigenhaftungsanteil anrechnen lassen, dass die Betriebsgefahr des unbekannten Gespanns sowie ein etwaiger Mitverursachungsanteil dahinter vollständig zurückträten. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei nämlich davon auszugehen, dass die Kl. auf die Rückfront des vorausfahrenden Gespanns aufgefahren sei. Bei einem Auffahrunfall streite der Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden des Auffahrenden. Es sei dessen Sache, den gegen ihn sprechenden Anschein durch die Darlegung eines atypischen Verlaufs zu erschüttern. Das Kerngeschehen eines Auffahrunfalls genüge für die Annahme eines Anscheinsbeweises nur dann nicht, wenn aus dem Unfallgeschehen weitere Umstände bekannt seien, die als Besonderheit gegen die Typizität sprächen. Als Auffahrende habe deshalb die Kl. einen vorherigen Spurwechsel des unbekannten Gespanns beweisen müssen. Dies sei ihr nicht gelungen. Anlass, im Streitfall vom Grundsatz der alleinigen Haftung des Auffahrenden abzuweichen, bestehe nicht."
[6] II. Diese Erwägungen halten der revisionsrechtlichen Überprüfung stand.
[7] Im Ansatz zutreffend – und von der Revision nicht in Frage gestellt – ist das BG davon ausgegangen, dass ein Ersatzanspruch gegen den Entschädigungsfonds nach § 12 PflVG das Bestehen eines gegen den Halter, den Eigentümer oder den Fahrer eines Kfz oder Anhängers gerichteten Schadensersatzanspruchs voraussetzt. Die Annahme des BG, ein solcher Anspruch bestehe nicht, weil die nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG vorzunehmende Abwägung dazu führe, dass die Kl. für den Unfall im Verhältnis zu Fahrer und Halter des Gespanns alleine hafte, begegnet keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
[8] 1. Nach st. höchstrichterlicher Rspr. ist die Entscheidung über die Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 StVG – wie im Rahmen des §...