VVG § 19 § 22; BGB § 123
Leitsatz
Fragt ein VR bei Aufnahme eines Antrags auf Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung nach einzelnen schweren Vorerkrankungen, so obliegt es dem ASt., eine nicht genannte, gleichwohl aber schwere Krankheit von sich aus zu offenbaren.
LG Heidelberg, Urt. v. 8.11.2016 – 2 O 90/16
Sachverhalt
Der Kl. macht Ansprüche aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung geltend.
Im Versicherungsantrag v. 25.3.2010, den der Kl. über den Versicherungsvertreter A J stellte, finden sich keine Gesundheitsfragen. Stattdessen enthält der Versicherungsantrag nur eine bereits vorgedruckte Erklärung, deren Richtigkeit der Kl. durch Ankreuzen des dafür vorgesehenen Leerkästchens bestätigte. Diese Erklärung hat folgenden Wortlaut:
"Ich erkläre, dass bei mir bis zum heutigen Tage weder ein Tumorleiden (Krebs), eine HIV-Infektion (positiver AIDS-Test), noch eine psychische Erkrankung oder ein Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) diagnostiziert oder behandelt wurden. Ich bin nicht pflegebedürftig. Ich bin fähig, in vollem Umfange meiner Berufstätigkeit nachzugehen."
(Kann diese Erklärung nicht abgegeben werden, beantworten Sie bitte die Fragen gem. Formular A 122.)“
Am 30.8.2012 stellte der Kl. einen Leistungsantrag wegen Berufsunfähigkeit. In diesem Antrag gab er an, an multipler Sklerose (MS) erkrankt zu sein. Er gab weiterhin an, dass die Krankheit erstmals im Juli 2002 diagnostiziert und seitdem fortlaufend behandelt worden sei. Des Weiteren gab der Kl. an, dass er seinen zuletzt ausgeübten Beruf als Orthopädietechniker seit 7.5.2012 nicht mehr ausüben könne, dass sein Arbeitsverhältnis mit dem Universitätsklinikum Heidelberg zum 31.8.2012 wegen voller Erwerbsunfähigkeit beendet worden sei und dass er seit 1.6.2012 aufgrund Antrags v. 27.4.2012 eine volle Erwerbsminderungsrente von dem gesetzlichen Rentenversicherungsträger beziehe. Einen Antrag auf Feststellung eines Grades der Behinderung nach dem Schwerbehindertengesetz habe er erstmals am 31.5.2005 gestellt. Dem Versicherungsantrag fügte der Kl. unter anderem eine Beschreibung des typischen Arbeitsalltags und mehrere Bescheide des Landratsamts Rhein-Neckar-Kreis zur Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft des Kl. bei.
Mit Schreiben v. 7.3.2013 erklärte die Bekl. die Anfechtung des Versicherungsvertrags wegen arglistiger Täuschung.
2 Aus den Gründen:
" … 1. Dem Kl. steht kein Leistungsanspruch aus dem mit der Bekl. abgeschlossenen Versicherungsvertrag über eine Berufsunfähigkeitsversicherung zu, weil die Bekl. diesen Vertrag mit Schreiben v. 7.3.2013 wirksam gem. § 22 VVG i.V.m. § 123 BGB angefochten hat. Gem. § 142 Abs. 1 BGB ist der Vertrag damit als von Anfang an nichtig anzusehen."
a. Es kann offenbleiben, ob eine arglistige Täuschung der Bekl. darin liegt, dass der Kl. durch Ankreuzen der vorgedruckten Erklärung zu seinem Gesundheitszustand in dem Versicherungsantrag v. 25.3.2010 die Angabe machte, dass er bei Antragstellung fähig gewesen sei, in vollem Umfang seiner Berufstätigkeit nachzugehen. Gegen die Annahme einer bewusst wahrheitswidrigen Angabe spricht in diesem Zusammenhang jedoch, dass sich ungeachtet der bei dem Kl. bereits seit 2002 bestehenden MS-Erkrankung und der bereits vor Antragstellung erfolgten Feststellung seiner Schwerbehinderteneigenschaft durch das Versorgungsamt ausweislich der betriebsärztlichen Bescheinigung v. 20.3.2014 bei der betriebsärztlichen Untersuchung am 27.9.2010 noch “keine spezifischen Anzeichen für eine Beeinträchtigung bezüglich der Ausübung des Berufes' aufgrund der konkreten Ausgestaltung des dem Kl. zugewiesenen Arbeitsplatzes ergeben hatten und dass der Kl. seinen Beruf als Orthopädietechniker im Zeitpunkt der Antragstellung auch tatsächlich noch ausübte.
b. Die von der Bekl. erklärte Anfechtung wegen arglistiger Täuschung ist jedenfalls deswegen begründet, weil der Kl. arglistig gefahrerhebliche Umstände, zu deren Offenbarung er nach Treu und Glauben verpflichtet war, verschwiegen hat.
aa. Ob eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung wegen des Unterlassens der Angabe von offenbarungspflichtigen Umständen auch dann in Betracht kommt, wenn diese Umstände vom VR – wie hier – bei Vertragsschluss nicht ausdrücklich erfragt wurden, oder ob die Anfechtung in einem solchen Fall durch § 19 VVG ausgeschlossen ist, ist umstritten und bislang, soweit ersichtlich, noch nicht höchstrichterlich oder obergerichtlich entschieden worden (vgl. die Nachweise bei Armbrüster, in: Prölss/Martin, VVG, 29. Aufl., § 22 Rn 3). Nach der wohl überwiegenden Auffassung im Schrifttum wird die Anfechtung in einem solchen Fall durch § 19 VVG nicht ausgeschlossen. Dieser Auffassung ist zu folgen. Die Beschränkung der Anzeigepflicht auf eine Antwortpflicht soll den VN nämlich von dem Risiko entlasten, die Anzeigepflicht (wenn auch schuldlos) infolge einer Fehleinschätzung der Gefahrerheblichkeit eines Umstandes zu verletzen. Geht der VN aber selbst davon aus, dass die Kenntnis des VR von bestimmten Umständen trotz des Fehlens entsprechender Fragen dessen Entscheidung beeinfluss...